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Sachsen-Anhalt Noch weiterer Aufklärungsbedarf

Was „Strukturermittlungen“ in Berlin mit der Razzia in der Ampfurther Cannabis-Plantage zu tun haben:

Von Ingmar Höfgen 16.02.2021, 09:42

Ampfurth/Berlin l Es ist der zehnte Prozesstag vor dem Landgericht Berlin um die im Sommer 2020 aufgeflogene Cannabis-Plantage in Ampfurth, aber ein wenig fühlen sich die Beobachter immer noch wie im Dezember. Schon damals saßen Anwälte und Angeklagte mehr oder weniger auf Abstand und trugen ihre Corona-Masken, und der Zeuge im Saal, ein Polizist aus einer Observationseinheit, war oftmals besonders verhüllt. Auch am Montag waren wieder drei Beamte geladen, die drei der vier Angeklagten bei Einkäufen in Berlin und den Touren nach Ampfurth mehrmals beobachtet hatten: Sie tragen Kapuze, meist spiegelnde Sonnenbrillen, natürlich eine große Maske vor dem Mund – und müssen sich nicht mit ihrem Namen, sondern nur durch eine achtstellige Nummer identifizieren. Der erste von ihnen verzichtete auf seine Augenbedeckung. „Sie sind mein Zeuge? Ohne Sonnenbrille hätte ich Sie fast nicht erkannt“, sagte der Vorsitzende Richter Mark Sautter und hat die Lacher auf seiner Seite.

Bestimmt zehn Beamte, so schätzt Strafverteidiger Peter Zuriel, hat man im Laufe der Verhandlungstage gehört. Bei ihren Befragungen durch Richter und Anwälte in den vergangenen Wochen ging es um die Frage, ob Beweisverwertungsverbote vorliegen könnten: Waren die Observationen von drei Angeklagten rechtswidrig, weil sie ohne richterlichen Beschluss immer wieder erfolgten, und war den Polizisten dies bewusst? Und folgt daraus auch, dass man die gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren nicht verwerten darf? Im deutschen Recht gibt es einen solchen, harten Zusammenhang nur in seltenen Fällen. Schießen Polizisten bei ihren Ermittlungen über das Ziel hinaus, dann hilft das Angeklagten nur in seltenen Ausnahmefällen. Auch Richter Sautter hatte vor Weihnachten schon angedeutet, dass die 11. Strafkammer die Erkenntnisse verwerten will.

Am Montag wurde immerhin deutlich: Je mehr Menschen man zum selben Sachverhalt befragt und in der Hierarchie nach unten geht, umso mehr widersprüchliche Details können zu Tage treten. Manches erstaunte und sorgte für Kopfschütteln, aber auch für sich bestätigt fühlendes Nicken bei Angeklagten und ihren Verteidigern. So horchten alle auf, als der Beamte ohne Sonnenbrille aussagte, in Berlin am 10. März 2020 die Umgebung erkundet zu haben. Rund 30 Straßennamen waren ihm genannt worden, er habe eine „Geländetaufe“ durchgeführt, wie er sagte. Dabei lief ihm in der Berliner Hansastraße auch die Zielperson E. über den Weg, die man überwachen wollte. So weit, so gut – allerdings hatten bisher alle Beamten ausgesagt, dass die Überwachung erst am 11. März 2020 begonnen und ein Haus in der Hansastraße nur zufällig ins Visier geraten war.

Die Verteidiger hatten an diese Zufall offenbar nie so recht glauben wollen, tauchten doch vom ersten Überwachungstag Fotos auf, die aus einer gut ausgewählten Position von schräg oben geschossen worden waren – eventuell vom Baugerüst eines gegenüberliegenden Hauses. In die Ermittlungsakte ging dann ein Foto ein, auf dem ausgerechnet das Gesicht der Zielperson hinter einem dicken Ast verschwindet. Erst später stellte sich heraus, dass zahlreiche Polizisten ihr Observationsobjekt verwechselt und den Falschen beobachtet hatten – und in der Folge auf einen Angeklagten und seine erste Fahrt nach Ampfurth stießen. Der Irrtum flog erst auf, als E. bei einer Verkehrskontrolle festgenommen wurde.

Auch die anderen beiden mit Nummern kodierten Beamten sorgten für den einen oder anderen Aha-Effekt. So ordnete der zweite Zeuge des Montages den Angeklagten Jamal T. fälschlicherweise als Zielperson ein und schob ein „zumindest im Laufe dann“ hinterher. Der dritte Zeuge, ein damaliger Hospitant, sprach sogar erstmals von „Strukturermittlungen“ gegen die Familie T. Das ließ die Verteidiger noch einmal besonders aufhorchen – bisher sollten zwei Personen überwacht werden, um etwas über die Drogenszene im Berliner Bezirk Wedding zu erfahren. Nicht nur für Zuriel passt das aber zu dem, was letztlich passierte, zusammen - man habe sich in das Umfeld der Hansastraße reingestellt und gesehen, was geschieht.

Ob den wegen bandenmäßigen Drogenhandels Angeklagten die zahlreichen nichtpassenden Puzzleteile letztlich nützen können, ist offen. Drei Angeklagte waren auch später, dann aufgrund eines richterlichen Beschlusses, bei der Fahrt zu Baumärkten und nach Ampfurth beobachtet und in der Nähe der über 800 Pflanzen starken Plantage festgenommen worden; sie sitzen ebenso in Untersuchungshaft wie der vierte Angeklagte, der im Oscherslebener Ortsteil mehrere Monate lang gemeldet war.

Das Gericht jedenfalls scheint dem polizeikritischen Ansatz der Verteidiger aktuell nicht folgen zu wollen. Das „ganz große Komplott“ laufe da mit Sicherheit nicht, sagte Richter Sautter. Aufklärungsbedarf sieht er dennoch. Und so könnte es sein, dass bereits zum nächsten Verhandlungstermin am Freitag „Nummer 33“ noch einmal aussagen muss. Das ist der Teamleiter, der im Dezember als erster der Zeugen eine Nummer statt seines Namens nennen durfte. So schließt sich der Kreis – und vielleicht sind alle hinterher etwas schlauer.