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Selbsthilfe Ohne Rücksicht lachen und weinen

Nach ihrer Krebsdiagnose hat Doris Fahsel vor vier Jahren die erste Selbsthilfegruppe für Krebspatienten in Oschersleben gegründet.

Von Susann Gebbert 07.10.2016, 20:28

Oschersleben l „Das Leben ist ein anderes geworden“, sagt Ilona Wohlbier. Wenn sie das sagt, spricht sie für sich und ihre Bekannte Doris Fahsel. Das andere Leben begann nach ihrer Krebsdiagnose. Seitdem ist die Angst ein ständiger Begleiter und die Haut der Frauen dünner. „Wir sind vielleicht gesund, aber nie wieder geheilt, da der Krebs immer wiederkommen kann“, so Wohlbier.

In Deutschland sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts 477  950 Menschen im Jahr 2012 neu an Krebs erkrankt. Im selben Jahr lebten in Deutschland insgesamt etwa 1,6 Millionen Krebskranke. Für 2016 hat das Institut 498 700 Neuerkrankungen prognostiziert. Frauen erkranken in erster Linie an Brustkrebs. Männer hingegen sind am häufigsten von Prostatakrebs betroffen.

Im Jahr 2008 erhält Doris Fahsel die Diagnose, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist und fällt in ein tiefes Loch. „Ich war gesund und dann kam dieser Brief, in dem etwas von Auffälligkeiten stand“, erzählt Fahsel. Vier Jahre später, beim Kaffeetrinken an einem Sonntag, wird ihr die Dimension der Krankheit bewusst. Von dem Tag an ist sie bereit, über ihr Leben mit der Krankheit zu sprechen. Ilona Wohlbier sucht schon ein Jahr nach der Diagnose den Austausch.

Doris Fahsel lernt bei einem Aufenthalt in einer Rehaklinik eine Frau kennen, die eine Selbsthilfegruppe für Krebspatienten leitet. Die Idee gefällt der Oschersleberin. Bereit über ihre Krankheit zu sprechen, sucht sie in ihrer Heimat nach einem Ort, wo sie sich mit Gleichgesinnten austauschen kann. Da es in Oschersleben keine Selbsthilfegruppe für Frauen mit einer Krebserkrankung gibt, gründet sie 2012 eine und schließt sich dem Verein „Frauenselbsthilfe nach Krebs Landesverband Sachsen-Anhalt“ an. Damit erhält sie auch das Recht, finanzielle Förderungen zu beantragen. Schon 2011 trifft sich Fahsel immer wieder mit anderen erkrankten Frauen und erkennt, dass das Interesse an einem Austausch in Oschersleben vorhanden ist. Um auf ihre Treffen aufmerksam zu machen, schreibt die 61-Jährige Flyer und legt sie in Apotheken und Arztpraxen aus. Im Gründungszeitraum sind sie zu acht. Die 56-jährige Ilona Wohlbier engagiert sich als Kassiererin in der Gruppe.

Derzeit treffen sich Doris Fahsel, 23 weitere Frauen und ein Mann einmal im Monat in dem Räumen der Stadtbibliothek. Die Teilnehmer sind zwischen 40 und 80 Jahre alt. Die meisten von ihnen leiden an Brustkrebs. „In jedem Stadium der Krankheit kann man sich uns anschließen“, so Fahsel. Auch gesunde oder von Rückfällen betroffene Frauen besuchen die Selbsthilfegruppe. Sie organisieren Vorträge zu Themen wie Ernährung, Sport und Kosmetik, tauschen Erfahrungen aus und feiern zusammen. 2013 besuchte Dr. Michael Böhme die Oschersleberinnen. Er ist Chefarzt des Krankenhauses St. Marienstift in Magdeburg. „Der Raum ist damals aus allen Nähten geplatzt und viele kamen von da an immer wieder“, so Fahsel. Viele Frauen aus ihrer Gruppe beklagen die kurze Behandlungszeit beim Arzt. An diesem Tag konnten die Frauen ohne Zeitdruck alle Fragen loswerden.

Die Gruppe engagiert sich auch für andere Krebspatienten, indem sie zum Beispiel schmerzlindernde Stoffherzen nähen. Die können sich die Frauen nach einer Brustoperation unter die Arme klemmen. Außerdem verteilen sie Weihnachtsgeschenke an Kinder, die an Krebs erkrankt sind.

„Ich bin durch die Gruppe selbstbewusster geworden“, sagt Doris Fahsel. Sie fühlt sich aufgeklärter und hinterfragt Entscheidungen der Ärzte, anstatt sie als „Götter in Weiß“ zu betrachten. Wohlbier und Fahsel sind sich einig, dass die Familien irgendwann an den Punkt kommen, wo sie nicht mehr zuhören. In der Gruppe können die Frauen reden und auch mal Streicheleinheiten austauschen, auf die sie zuhause manchmal warten müssen.

Als Doris Fahsel 2010 bei einem Kuraufenthalt in Bad Nauheim mit Einheimischen ins Gespräch kommt, können die nicht glauben, dass Fahsel an Krebs erkrankt ist: „Du doch nicht.“ „Dass wir Krebs haben, steht uns nicht vor den Kopf geschrieben“, war die kecke Antwort. Auch dahingehend hat sich ihr Leben verändert: Doris Fahsel ist nicht nur etwas souveräner, sondern verbringt auch ihr Leben achtsamer.