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Tagebau Der See überflutet die Narben der Trennung

Harbke wurde seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich von der Braunkohle geprägt. In Form des Lappwaldsees hallt dieses Erbe nach.

Von Hartmut Beyer 12.10.2017, 23:01

Harbke l Zwar hatte man in der Region schon etwa 100 Jahre früher Braunkohle entdeckt, aber in Harbke soll der Bergbau erst begonnen haben, nachdem man beim Graben eines Brunnens auf Kohle gestoßen war. Der Graf von Veltheim, dessen Schlossruine und die Orangerie im geschichtsträchtigen Park heute beliebte Ausflugsziele sind, veranlasste 1842, den Schacht „August Ferdinand“ niederzubringen.

Das Gebiet des Tagebaus mit mehreren Gruben wurde größer und größer und erstreckte sich von Harbke im Osten bis nach Helmstedt im Nordwesten und Büddenstedt im Südwesten. Ab 26. Januar 1873 kam alles unter die Regie der neu gegründeten Braunschweigischen Kohlenbergwerke (BKB). Mit dazu gehörten später das Kraftwerk Harbke und die Brikettfabrik Völpke.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verlief die innerdeutsche Grenze durch die Tagebaue Wulfersdorf – das Dorf selbst fiel dem Kohleabbau zum Opfer – und Helmstedt. Als die Volkspolizei am 26. Mai 1952 um 7 Uhr die so genannte Zonengrenze dicht machte, kam es auf beiden Seiten zu dramatischen Aktionen.

So wollten die BKB-Mitarbeiter den auf der Ostseite noch 150 Meter von der Grenze entfernten Bagger zu sich holen. Dieser wurde von westlicher Seite mit Strom versorgt. Um die Aktion zu verhindern, kappten Volkspolizisten das Kabel und rissen das Gleis auf. Auf der anderen Seite drohte man, das Wasser für das Kraftwerk Harbke abzudrehen, das von westlicher Seite bereitgestellt wurde.

Eine veränderte politische Situation zwischen beiden deutschen Staaten war der Anlass für die plötzliche Auseinandersetzung gewesen, denn bis dahin hatte man beim Abbau der auf beiden Seiten begehrten Kohle immer zusammenarbeiten müssen. Nun war man gezwungen, sich in Ost und West neu auszurichten.

Den BKB im Westen fehlte der Strom aus dem Kraftwerk Harbke, für den Weiterbetrieb des Tagebaus Wulfersdorf war die Fläche für die Verkippung des Abraums abhanden gekommen, denn die lag jetzt im Westen. Später regelte man per Vertrag, dass Territorien der jeweils anderen Seite zur zeitweiligen Nutzung überlassen würden.

Und dann gab es noch den so genannten Grenzkohlepfeiler. Dazu erklärt Experte Reiner Orlowski: „Die Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD querte die Braunkohlenmulde von Helmstedt-Oschersleben. Beiderseits der Grenze bauten die Tagebaue Harbke und Helmstedt Kohle ab. Bergtechnisch war die Grenze ein zu schützendes Objekt, denn der sich in die Tiefe trapezförmig erweiternde Gebirgskörper – der Sicherheitspfeiler – durfte, gemäß Bergrecht, nicht abgebaut werden. Es sei denn, die angrenzenden Betriebe einigten sich über einen gemeinsamen Abbau des Grenzkohlepfeilers. Weil Staatsgrenze, mussten sich auch die anliegenden Staaten einig werden.“

So geschah es dann auch. Die Kohlegewinnung in den Tagebauen Helmstedt und Wulfersdorf war in den folgenden Jahren trotz Grenze schon deshalb nie getrennt. Wie das bis zum Ende 1991 ablief, hat Reiner Orlowski in seinem Buch „Bagger greifen ein – ein friedlich gelöstes Grenzproblem“ auf über 100 Seiten aufgeschrieben. Der Diplom-Bergingenieur arbeitete seit 1960 im Revier. Erst als Verantwortlicher für die Tagebausicherheit, später als Direktor des Braunkohlenwerks Harbke.

„Die gegenseitige Information und Koordinierung der bergtechnischen und technologischen Arbeiten fand auf drei Kommunikationsebenen statt“, schreibt er. Dazu hätte man sich „mal hüben und mal drüben getroffen.“ Andere Treffen, etwa bei der Übergabe von Sprengstoffen und -mitteln wären an einer Tür im Grenzzaun erfolgt. „Dabei achteten die Beteiligten peinlich genau darauf, nicht die jeweils andere Seite des Zaunes zu betreten.“

Für ganz dringende Angelegenheiten, darunter besondere Vorkommnisse, die das Betriebsgeschehen des jeweils anderen Betriebs beeinträchtigen könnten, stand ein rotes Telefon zur Verfügung. „Das Gespräch erfolgte nur nach einer Gesprächsvoranmeldung über das Fernmeldeamt der Deutschen Post“, berichtet Reiner Orlowski.

1988 wurde im Osten die letzte Kohle gefördert. Im Westen war damit 2003 Schluss. Das Braunkohlenlager war ausgeräumt, das Grundwasser, bis dahin immer abgepumpt, konnte wieder ansteigen. Bei einem Wasserstand von 50 Metern über Normalnull setzte am 1. Mai 2006 die Flutung mit Wasser aus dem Tagebau Schöningen ein.

Noch trennt der Damm, der für den Aufbau der ehemaligen Grenzsicherungsanlagen der DDR zwischen den Tagebauen Helmstedt und Wulfersdorf aufgeschüttet werden musste, die Restlöcher der beiden ehemaligen Betriebe. Er wird in einigen Jahren überflutet sein und sie zum großen Lappwaldsee vereinen. Das Grundwasser muss es richten, denn andere Zuflüsse gibt es nicht.

Zwar leitet man den Wasserüberschuss des Grubenwassers aus dem Schöninger Tagebau bei Helmstedt ein, aber das werde auch bald ein Ende finden, weiß Reiner Orlowski, dem umfangreiches Zahlenmaterial der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) vorliegt.

Auf östlicher Seite obliegt der LMBV die Sicherung des Gebietes, dessen Renaturierung sowie die Übersicht über den Restlochanstieg des Wassers. Messungen zeigen, dass es im Gebiet pro Jahr 585 Liter je Quadratmeter Niederschlag gibt, von der freien Seeoberfläche aber 715 Liter je Quadratmeter verdunsten. Das Defizit muss also durch ansteigendes Grundwasser wieder ausgeglichen werden.

„Das Grundwasser, das wir früher aus dem Tagebau abgepumpt haben, steigt wieder an. 2015/2016 waren es 1,8 Millionen Kubikmeter“, meint Bergingenieur Orlowski, der auch Experte in Geohydrologie und Bodenmechanik ist. Insgesamt hätte das Restloch 125 Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen. Wenn der See aufgefüllt ist, werde er eine Größe von 419 Hektar haben und an der tiefsten Stelle 66 Meter messen. „Dieser Zustand wird vermutlich im Jahr 2080 erreicht sein“, so Orlowski. Optimistischere Prognosen rechnen schon mit dem Jahr 2032.

Die angrenzenden Kommunen Helmstedt und Harbke wollten nicht so lange warten und haben sich gemeinsam mit der Entwicklung des Gewässers zu einem Touristenmagneten befasst. Dabei war die Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die den gleichen Verlauf wie die frühere Staatsgrenze hat, kein Hindernis.

So fassten die Räte der Stadt Helmstedt, der Gemeinde Harbke und der Gemeinde Büddenstedt den Beschluss, dass der Helmstedt-Harbke-See den Namen „Lappwaldsee“ tragen soll. Rund um den See gibt es bereits ausgeschilderte Radwege, ein gemeinsames Projekt. Regelmäßig werden Führungen an den See von Helmstedter und Harbker Seite aus angeboten.

Was von den Zukunftsvisionen realisiert werden kann, ist noch ungewiss. Aber man hat die Vorstellung, dass am Lappwaldsee Strandbereiche für den Badebetrieb entstehen. Darüber hinaus sind Anlegeplätze für Segel- und Motorboote geplant. Surfen, Wasserski und Regattasport sowie Drachen- und Gleitschirmfliegen könnten zu den weiteren freizeitlichen Aktivitäten am See zählen.

Schwimmende Häuser, touristische Anlagen am Wasser, Seepromenaden und möglicherweise auch ein Wasserlandeplatz für Flugzeuge werden am See auf die Besucher warten, so die Ideen für die Zukunft. Freizeitwohnen auf Campingplätzen sowie in nahe am See gelegenen Ferien- und Wochenendhäusern ist außerdem geplant. Die Rekultivierungsmaßnahmen sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber die touristische Erschließung hat bereits begonnen.