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Theaterstück Von der Aula ins Schauspielhaus

Schüler der Oschersleber Puschkin-Sekundarschule proben für ein Theaterstück, das sie im Mai im Schauspielhaus in Magdeburg zeigen.

Von Susann Gebbert 12.04.2017, 01:01

Oschersleben l Er soll sie schubsen, seine Lehrerin. Vincent kann es nicht glauben. „Echt jetzt?“ Zu ungewohnt ist das verdrehte Rollenbild. Schüler schubst Lehrer. Ist das sonst nicht immer andersherum, wenn auch nur im übertragenen Sinn? Annette Kuss, Schauspiellehrerin, ist sich ihrer Sache sicher. Vincent schubst. Seit Annette Kuss immer montags an der Puschkinschule ist, läuft einiges ungewohnt.

Vincent ist Teil einer Schülergruppe aus Acht-, Neunt- und Zehntklässlern, die ein Theaterstück auf die Bühne des Schauspielhauses in Magdeburg bringen wollen. Sie proben gerade eine Szene, in der es um Macht geht. Die Macht, die Lehrer haben, wenn sie Sechsen verteilen oder blutende Schüler im Sportunterricht verpflichten, weiterzulaufen.

„Die Idee dahinter ist, dass Schüler nicht nur Theater konsumieren, sondern selbst teilhaben“, sagt Annette Kuss, Theaterpädagogin am Theater in Magdeburg. Sie ist hübsch, hat lange braune Haare, ein jugendliches Lächeln, trägt Turnschuhe und bunten Pulli zu Feinstrumpfhose und Faltenrock. Eine Boheme vielleicht. In der Kulisse der Sekundarschule ist sie es allemal. Annette Kuss ist dafür verantwortlich, dass am Ende von anfänglicher Motivation, Freizeitentzug, launischer Begeisterung, Kein-Bock-mehr-Stimmung und Pubertät ein Theaterstück steht.

Das Bundesministerium für Kultur und Bildung hat das Programm „Kultur macht stark“ initiiert. Kinder und Jugendliche, die einen „eingeschränkten“ Zugang zu Bildung haben, sollen mit Kunst und Kultur zusammengeführt werden. Das Bundesministerium hat seit 2013 landesweit mehr als 700 Projekte mit etwa 25 000 Kindern und Jugendlichen gefördert. Bundesweit waren es circa 15 500.

Die Theaterpädagogin aus Magdeburg hat sich mit ihrer Projektidee beim Bundesministerium beworben und die Theater begeisterte Direktorin der Oschersleber Puschkin-Sekundarschule Astrid Ribke als Partnerin gewonnen.

Jetzt steht Annette Kuss vor zehn Schülern, die tuscheln, kichern, sich in die Seite kneifen oder in den Armen liegen. Hin und wieder verpassen sie ihren Einsatz. „Es wäre schön, wenn wir mal eine Szene durchspielen könnten ohne, dass ihr euch Privates erzählt“, sagt sie. Sie proben eine Szene, in der sich nach einer Party alle verdrücken und niemand beim Aufräumen helfen will. Der Gastgeber fühlt sich ausgenutzt. Die Szene liegt ihnen.

Als die Treffen im November des vergangenen Jahres begonnen haben, gab es noch kein Drehbuch. Gunhild Dannenberg, Lehrerin für Deutsch und Geschichte: „Das war für die Schüler und auch für uns Lehrer gewöhnungsbedürftig.“ Geht es doch sonst streng nach Lehrplan. Gunhild Dannenberg und die Schulleiterin Astrid Ribke begleiten das Projekt federführend von schulischer Seite. Annette Kuss gelingt es, das Schulkorsett zu sprengen. Wenn auch nur jeden Montag für zwei Stunden. Wenn auch von den anfänglich 20 Schülern nur noch etwa zehn dabei sind. Einigen fehlte ein Konzept, andere wollten ihre Freizeit zurück. Auch die 15-jährige Joelle nervt es manchmal, dass die Proben zu einer Pflichtveranstaltung geworden sind. Trotzdem kommt sie jeden Montag in die Aula, gibt jedem Erwachsenen im Raum die Hand. „Das Projekt ist mal etwas Besonderes.“

Die Theaterpädagogin Annette Kuss erarbeitete das Stück Schritt für Schritt, Woche für Woche mit den Jugendlichen. Erst seit März gibt es ein Drehbuch. Im Mai sind die Aufführungen im Schauspielhaus. Vorher lagen die Schüler bäuchlings im Kreis, stützten mit den Händen ihr Kinn und erzählten, was ihnen zu Macht, Liebe, Fehlern, Ausbeutung, Freiheit, Hoffnung, Gemeinschaft und Angst einfiel. Allesamt Themen, denen sich auch Martin Luther gewidmet hat. „Martin Luther, war der hier nicht mal Lehrer an der Schule?“, fragte jemand. „Der war doch ganz in Schwarz gekleidet wie Batman“, rief ein anderer. So kam das Theaterstück auch zu seinem Namen: „Einer wie Batman“. Annette Kuss tippte die Antworten der Jugendlichen auf ihrem Laptop mit und fügte sie zu einem Drehbuch zusammen.

Entstanden ist ein Potpourri aus Erlebnissen und Gedanken der Jugendlichen, die sich um das Thema Reformation, Erneuerung, drehen. „Kinder sind Experten für Erneuerung, da sie im Wachstum sind“, sagt Kuss. Außerdem will sie ihnen beweisen, dass sie die Chance haben, sich und im Klitzekleinen auch die Welt zu verändern. Es scheint zu gelingen. Gunhild Dannenberg hat beobachtet, wie sich eine Achtklässlerin auf dem Schulhof mit Zehntklässlern abklascht. „Sie war vor dem Projekt ganz ruhig, hat sich bemüht nie aufzufallen.“ Jetzt klatscht sie nicht nur mit Älteren ab, sondern widerspricht auch ihrer Lehrerin. Gunhild Dannenberg freut sich. Sie ist eine der beliebten Lehrerinnen.

Neben der Schauspielgruppe gibt es ein Schüler-Team, das Kostüme und Bühnenbild gestaltet. Mit dabei ist Maria aus der 10a. Burschikoser Typ. Ihre Zeichnungen fallen auf. Aus zarten Bleistiftstrichen werden Puppenbildnisse auf einem Plakat, das später auf der Bühne hängen wird. Sie würde gern Kunst studieren. Hat aber Angst, dass sie davon nicht leben kann. Im Vorbeigehen sagt Leon: „Ich dachte, ich kann zeichnen, bis ich Maria kennengelernt habe.“ Er stöhnt. Mit Schule hat er es nicht so. Aber mit Musik hat er es. Klavier und Ukulele spielt Leon.

Annette Kuss möchte mit ihrem Projekt kleine Samenkörnchen streuen. Eine gemeinsame Whats-App-Gruppe, Schüler, die Lehrern widersprechen oder Zehntklässler abklatschen sind daraus schon gewachsen. Gunhild Dannenberg sagt: „Das Projekt wird die Schüler verändern.“