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Wendezeit Zeitzeugen erinnern an Montagsgebete

Die Montagsgebete waren ein wichtiger Teil der Friedlichen Revolution. Es gab sie auch in Oschersleben.

Von André Ziegenmeyer 23.10.2019, 06:00

Oschersleben l „Es war eine ganz besondere Zeit“, erklärte der katholische Pfarrer Christoph Sperling. Gemeinsam mit seinem evangelischen Amtskollegen Georg Werther hielt er eine ökumenische Andacht in der Kirche St. Marien. Genau dort fanden vor 30 Jahren die Montagsgebete statt. Viele Zeitzeugen nahmen an der Veranstaltung teil. „Es waren nur wenige Wochen, die die eigentliche Wende ausmachten“, so Christoph Sperling. Noch heute gelte es, Danke zu sagen, dass alles friedlich verlaufen sei. „Heute wissen wir, wie sich die Dinge weiterentwickelt haben. Damals war alles ungewiss“, so der katholische Pfarrer. „Plötzlich trauten sich sehr viele Menschen auf die Straße, obwohl man nicht sicher sein konnte, dass die Staatsmacht nicht mit Gewalt und Verhaftungen reagieren würde.“

Für diejenigen, die damals zu jung oder noch nicht geboren waren, sei es schwer, die Atmosphäre nachzuempfinden. „Dazu muss man auch das Ohnmachtsgefühl eines DDR-Bürgers kennen, die lähmende Erfahrung der Rechtlosigkeit, die Verlogenheit des öffentlichen Lebens“, erinnerte Christoph Sperling. Es sei „eine Art Wunder, dass der für seine Millionen Toten bekannte Kommunismus auf weitgehend friedliche Weise die Macht abgab“. Allerdings schlug Sperling auch den Bogen in die Gegenwart. Der Mut aus der Wendezeit werde weiterhin gebraucht: „Auch heute bedrohen Lüge, Machtmissbrauch sowie gefährliche Ideologien das Gemeinwohl“, betonte der katholische Pfarrer. „Das beste und freiheitlichste gesellschaftliche System nutzt uns wenig, wenn wir nicht wissen, wofür wir die Freiheit nutzen, und der Verführung eines neuen und raffinierteren Materialismus erliegen. Wenn Ideologien in neuem Gewand, aber mit altem Betrug ihr Comeback feiern.“

Im Anschluss fand im katholischen Vereinshaus ein Podiumsgespräch statt. Den Weg dorthin legten die Teilnehmer der Andacht mit Kerzen in den Händen zurück. Moderiert wurde das Gespräch von Sachsen-Anhalts Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch. Auch sie war bei den Montagsgebeten in Oschersleben dabei. Weitere Teilnehmer waren der ehemalige Superintendent Günther Henning, Torsten Schubert als einer der Sprecher bei den damaligen Montagsgebeten sowie Rainer Rose, der sich damals im Rahmen des Neuen Forums engagierte.

Gabriele Brakebuch betonte, dass die Erinnerung an die Wende bei vielen noch frisch sei. „Oft denke ich: Das kann noch keine 30 Jahre her sein“, sagte Brakebusch. Allerdings habe sich heute häufig eine kritische Perspektive eingestellt. In diesem Zusammenhang erklärte Gabriele Brakebusch, dass im Einigungsvertrag einiges vergessen worden sei. Es seien auch Fehler gemacht worden. Trotzdem betonte sie: „Für mich und meine Familie war die Wiedervereinigung der richtige Schritt.“ Darüber hinaus hätten die damaligen Ereignisse in ihr den Wunsch geweckt, sich gesellschaftlich zu engagieren.

Torsten Schubert sagte: „Was mich in der heutigen Zeit belastet, ist, dass wir so wenig Dankbarkeit beweisen.“ Die Wende sei gerade 30 Jahre her. „Aber die Unzufriedenheit, die wir heute bereits erleben, ist so groß, dass ich es nicht verstehen kann.“ Schubert rief dazu auf, stärker auf das zu blicken, was in den vergangenen 30 Jahren gelungen sei - und nicht ausschließlich darauf, was noch nicht gelungen sei. Man dürfe das Erreichte nicht aus dem Blick verlieren.

Günther Henning hatte die Montagsgebete 1989 gemeinsam mit dem katholischen Pfarrer Viktor Krause ins Leben gerufen. Das Ziel sei es gewesen, Menschen einen öffentlichen Raum zum Reden zu geben, wie es ihn zuvor in 40 Jahren nicht gegeben habe. Auch in Oschersleben sei damals „die gefühlte Temperatur des gesellschaftlichen Unmuts“ gestiegen. Aus dem ganzen Kreis seien Menschen gekommen. Viele habe der Wunsch geeint, sich „die Erneuerung in der Gesellschaft nicht wieder kaputt machen zu lassen wie 1953“, so Günther Henning. Nach den Friedensgebeten habe ein Lichterweg zum Markt geführt. Auch der damalige Bürgermeister Karl-Heinz Skrzypczak habe Zivilcourage gezeigt und sei dabei gewesen. Der Ausruf „Wir sind das Volk!“ sei ein wichtiger Bestandteil der damaligen Ereignisse. Dass er heute in anderem Zusammenhang wieder genutzt werde, sei dagegen Anlass zur Sorge. „Bei einer derart gefälschten Tarnung müssen die Alarmglocken schrillen“, so Günther Henning.

Rainer Rose erinnerte daran, dass es den Mitgliedern des Neuen Forums gar nicht um die Wiedervereinigung gegangen sei, sondern um eine Demokratisierung des Staates. „Die Ereignisse haben uns überrannt“, so Rose. Auch er mahnte: „Heute gibt es wieder Menschen, die sich eine Mauer wünschen - gegen Ausländer, die auch nur Frieden, Freiheit und ein Auskommen wollen“. Angesichts nationalistischer Strömungen dürfe man die Gesellschaft nicht zerreißen lassen.