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Geschichtsprojekt Frühere Angestellte erinnert sich

Ein Osterburger Schulprojekt hat im Leben der jüdischen Familie Less recherchiert. Jetzt gibt es neue Erkenntnisse.

Von Nico Maß 22.07.2017, 01:01

Osterburg l Anfang 2017 konnten sich Markgraf-Albrecht-Gymnasiasten der von den Lehrern Michaela Steinke und Fabian Kröhnert sowie von Sozialpädagogin Steffi Wecke betreuten Gruppe „Schule ohne Rassismus“ im Osterburger Kreismuseum durch einen Brief lesen, den Moritz Less im Februar 1946 an den damaligen Landrat des Kreises Osterburg richtete und mit dem er die Hoffnung verbunden haben soll, sein früheres Eigentum wiederzuerlangen. Dieses Schreiben, das die in Hamburg lebende Marlies Ritz-Ronneburger in Erinnerungen an ihre Heimatstadt Osterburg veröffentlicht hat, brachte viele wertvolle Erkenntnisse.

Ein bis dato unbekanntes Puzzlestück für das Gesamtbild steuerte eine Frau bei, die Ende der 30er Jahre und während der Reichskristallnacht als Telefonistin im Osterburger Rathaus arbeitete. Sie räumte mit der weit verbreiteten Behauptung auf, dass Stendaler SA-Leute das Schuhmachergeschäft Less am 10. November 1938 verwüsteten. Tatsächlich seien es SA-Angehörige aus Wittenberge gewesen.

Weitere Details aus diesen Tagen teilte jetzt Professor Dietrich Fischer aus Potsdam dem Kreismuseum mit. Der gebürtige Osterburger hielt sich Ende Juni zu einem Klassentreffen in der Biesestadt auf. Nachdem Frank Hoche die Senioren zu einem „Stadtrundgang in Bildern“ eingeladen hatte, erfuhr der Kreismuseumsleiter, dass Fischers Mutter im Schuhgeschäft Less zur Lehre ging. Auf Wunsch Hoches schrieb Fischer daraufhin seine Erinnerungen nieder und stellte sie dem Kreismuseum zur Verfügung.

Nach Fischers Angaben sei die 1914 in Königsmark geborene Hildegard Käthe Röxe direkt nach der Schule von dem Osterburger Kaufmann eingestellt worden. Im Geschäft zur Lehre zu gehen, habe damals aber auch Arbeit im gesamten Haushalt bedeutet. „Sie erzählte uns, dass sie mit der Familie Less auch auf Sylt war – ihre einzige Reise“, so Fischer.

1936 habe die Mutter Ernst Fischer geheiratet, der bei seinem Cousin in Meseberg als Tischler arbeitete. Am 1. November 1937 erblickte Dietrich Fischer das Licht der Welt, die Familie wohnte gegenüber vom Geschäftshaus Less in der Breiten Straße.

Wie der heutige Potsdamer festgehalten hat, erzählte seine Mutter immer sehr bewegt von der Ereignissen, die sich in Osterburg am 10. November 1938 und damit einen Tag nach der Reichskristallnacht abgespielt hatten. So sei am Morgen ein Mann von der Kreisleitung der NSDAP zu ihr gekommen und habe ihr geraten, zu „verreisen“. Ihr Ehemann war zu dieser Zeit nicht in Osterburg, er war zum Bau des Westwalls verpflichtet worden. Hildegard Fischer sei nach diesem Hinweis mit ihrem knapp einjährigen Sohn zu Verwandten nach Perleberg gefahren. Am Abend zurück, sei „neben der Zerstörung des Schuhgeschäfts bei uns vor der Tür durch einen Mob gerufen worden: Wer vom Juden frisst, soll daran verrecken.“

So weit die Erinnerungen an den Tag, an dem SA-Leute das Geschäft von Moritz Less heimsuchten. Nach der Verwüstung in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, verkaufte Less das Geschäft nach seiner Rückkehr aus dem KZ unter Wert. Zwei Töchter konnten nach England emigrieren, Less selbst und die jüngste Tochter, denen die Ausreise aus Deutschland verwehrt blieb, verließen Osterburg ebenfalls. Bis 1943 leisteten sie Zwangsarbeit in Berliner Rüstungsbetrieben, dann tauchten sie unter. Moritz Less überstand das Dritte Reich im Untergrund, seine verhaftete jüngste Tochter überlebte die Gräuel von Auschwitz und Ravensbrück. Nach Kriegsende ließ sich der frühere Osterburger mit seinen Töchtern in den USA nieder.

Von der Familie Less habe seine Mutter stets voller Achtung gesprochen, betonte Dietrich Fischer. Und er fügte als letzten Satz unter seinen Aufzeichnungen hinzu: „Ich finde es sehr gut, dass man an die jüdischen Mitbürger erinnert.“