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Herbst 1989 Als plötzlich alles anders war

30 Jahre Mauerfall: In Seehausen wurden persönliche Geschichten vorgelesen, in Osterburg auf dem Friedhof drei Linden gepflanzt.

Von Karina Hoppe 10.11.2019, 23:01

Seehausen/Osterburg l Wie soll es aussehen, das öffentliche Sich-Erinnern, 30 Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze? Stadt und Verbandsgemeinde Seehausen entschieden sich zuvorderst für eine persönliche Rückschau. Ganz genau „Rückblicke“, titelt das Programm der in Osterburg aufgewachsenen Danuta Ahrends und von Anna Radtke aus dem früheren West-Berlin doch „Hüben und drüben – Rückblicke über die Mauer“.

Die beiden Mitarbeiterinnen der Osterburger Stadt- und Kreisbibliothek touren seit vier Jahren mit der von Edgar Kraul und Thomas Stein musikalisch umrahmten Lesung durch die Altmark und darüberhinaus. Dass sie am 9.  November 2019 Höhepunkt der Seehäuser Gedenkveranstaltung sein dürfen, „berührt und ehrt uns wirklich sehr“, sagte Danuta Ahrends, die vor dem Mauerfall Protestplakate mitgestaltete und das Gefühl hatte, „in diesem Herbst könnte uns alles gelingen“. Als „alles“ plötzlich wahr wurde, schlief sie und war doch irgendwie erschrocken, wie schnell die Leute weg waren – immerhin stand ja Karneval vor der Tür.

Die Mörder jedenfalls waren alsbald gleichmäßig über Deutschland verteilt und die Ostverwandtschaft von Anna Radtke konnte endlich ihr „Traumland Westen“ bereisen. Dabei hatte Anna Radtke mit „aufkeimendem ökologischen Bewusstsein“ immer wieder vergeblich versucht, ihren Cousin und Onkel ein realistischeres Bild von der BRD zu vermitteln. „Es war mir nicht möglich.“ Dass es im Westen auch Leute gab, die sich die schöne bunte Warenwelt nicht leisten können und dass doch zumindest die über dem Osten stehende Idee von Gleichheit und Brüderlichkeit positiv zu bewerten sei, ist nicht durchgedrungen.

„Ein Wunder, dass diese Revolution friedlich geblieben ist“, äußerte zum Auftakt der Veranstaltung in der Salzkirche Christian Buro. Die „friedliche Sprache“ der Kirche habe sicher ihren Anteil daran. „Wir haben uns den Ruf als friedliches Volk erarbeitet“, so der Pfarrer von Beuster. Dieser Ruf möge uns auch in Zukunft vorauseilen, „leider gibt es in jüngster Vergangenheit Ereignisse, die uns Sorgen machen“. Na klar, auch „Halle“ stand im Raum.

Verbandsgemeindebürgermeister Rüdiger Kloth erinnerte unter anderem an den nach Engels und Hegel definierten DDR-Begriff von Freiheit als Einsicht in das Notwendige –die irgendwann niemand mehr mittragen wollte. „Die Bürger der DDR haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.“ Mauerfall, erste freie Wahlen in der DDR am 18. März, die Einweihung des Grenzüberganges Bömenzien-Kapern am 31. März, Währungsunion am 1. Juli und dann am 3.  Oktober „die Deutsche Einheit beziehungsweise der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik“ – Kloth skizzierte nach, wie schnell nach dem Herbst 1989 alles ging, honorierte schließlich die heutigen freien Wahlen, freie Presse, Glaubensfreiheit, Meinungsäußerung, wenn man jedoch gerade mit Letzterer auch umgehen können müsse. „Der Ton untereinander ist deutlich rauer geworden, das geht bis zur Hetze.“

An der Biese wollte man etwas Bleibendes anlässlich „30  Jahre Mauerfall“. Symbolisch wurden am Sonnabend auf dem Osterburger Friedhof drei Linden gepflanzt. Die Kirchengemeinde hatte dazu eingeladen. „Dabei steht ein Baum jeweils für ein Jahrzehnt“, sagte Einheitsgemeindebürgermeister Nico Schulz. Er griff zusammen mit Gemeindekirchenräten, Konfirmanden und Pfarrer Gordon Sethge zur Schaufel. „Damals war ich erst 16 Jahre alt, habe leider keine aktiven Erinnerungen an das Ereignis“, bedauerte Schulz. „Wir sollten heute an diejenigen denken, denen damals Unrecht getan wurde. Und ich würde mir besonders wünschen, dass in spätestens zehn Jahren keine Unterschiede mehr gemacht werden.“

Pfarrer Gordon Sethge rief dazu auf, auch künftig „für Frieden und Freiheit zu beten“. Im Anschluss fand ein Friedensgottesdienst in der St. Nicolai-Kirche statt. Dort, wo im Herbst 1989 Montagsgebete gehalten wurden.