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Flucht Hauptsache, es ist kein Krieg

Farhad Shojayee floh 2015 aus Afghanistan. Ein Leben ohne Leid kannte er nicht - bis er nach Salzwedel kam, wo er bei der Tafel hilft.

Von Annemarie Fehse 24.12.2016, 00:01

Salzwedel l Lächelnd steht Farhad Shojayee im Türrahmen und streckt die Hand aus. „Guten Tag“, sagt er in gebrochenem, aber verständlichem, Deutsch. Dann tritt er einen Schritt zurück, macht Platz, hält die Tür auf. „Bitteschön!“ In der Geschäftsstelle der Salzwedeler Tafel an der Schillerstraße ist alles hell beleuchtet. Mitarbeiter gehen geschäftig durch die Räume. An einem Freitagnachmittag ist das normal, in einer Stunde, um 15 Uhr, beginnt die Ausgabe für Bedürftige.

Normalerweise hilft Farhad beim Entpacken der Waren, bei der Ausgabe und als Übersetzer. „Für Afghanen, Iraner, Afrikaner und Syrer“, sagt er. Auf Englisch oder Arabisch. Aber er hilft auch Deutschen. „Manchmal brauchen ältere Menschen Hilfe und ich helfe.“ Heute aber hat sich Farhad Zeit genommen. Er hält die Tür zu einem Büro auf. „Bitteschön“, sagt er, zieht einen Stuhl zurück, bevor er sich auf seinen eigenen setzt.

Der 23-Jährige schaut neugierig. „Frag mich alles – was willst du wissen?“, fragt er gespannt und zieht die Augenbrauen hoch. Seine braunen Augen wirken vertrauenserweckend. Den Trubel um ihn herum in der Tafel scheint er auszublenden. Farhad ist Nervenaufreibenderes gewöhnt.

Im Frühjahr 2015 ist Farhad nach Deutschland gekommen.Mit dem Schiff, dem Zug oder zu Fuß über den „Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich“, zählt er auf. Ganze zwei Monate sei er unterwegs gewesen, berichtet er.

„Die Reise war hart. Vor Griechenland hatte ich Angst. Überall war Wasser, nichts anderes. Ich stellte mir vor, das Boot könnte umkippen.“ Ein richtiges Ziel hatte er nicht. „Ich wollte einfach nur weg“, sagt er und schaut auf seine Hände. Weg vom Krieg, von der Verwüstung und der Zerstörung.

In seiner Heimatstadt Baglan, ein Ort im Nordosten Afghanistans mit mehr als 80.000 Einwohnern, herrscht seit mehreren Jahren Krieg. Farhad kannte, bevor er nach Deutschland kam, kein Leben ohne Leid. „Ich habe verletzten Menschen geholfen, nachdem eine Bombe in der Stadt explodiert ist“, sagt er und senkt die Stimme. Farhad schaut auf und fügt leise an: „Manchen Menschen konnte ich leider nicht mehr helfen.“

Etwa Ende 2014 stand Farhads Entschluss fest: „Einfach weg, irgendwohin, wo kein Krieg ist“, sagt er. 8000 Dollar habe seine Mutter für ihn aufgetrieben. Viel Geld für die Familie mit drei Söhnen und einer Tochter. Aber Farhad sollte eine bessere Zukunft haben.

In der Tafel kann er zumindest seit drei Monaten daran arbeiten. Seine Englischkenntnisse helfen ihm beim Dolmetschen. „Ich habe ein Zertifikat in Englisch und auch in Computerarbeit“, sagt er stolz und seine Augen blitzen wieder auf. Die Hoffnung hat er nicht verloren.

Vor einem Jahr noch ist Farhad selbst Kunde bei der Tafel gewesen. Jetzt arbeitet er dort – und in einer Bäckerei. Auch wenn er eigentlich bei der Sparkasse anfangen wollte, das habe aber nicht geklappt, ist er nun zufrieden mit seiner Berufswahl. Im August 2017 möchte er sogar eine Ausbildung als Bäcker beginnen. Aber erst muss Farhad die Betriebliche Einstiegsqualifizierung (EQ) abschließen.

Peter Desoi vom Salzwedeler Verein eXchange erklärt: „Dabei wird ein Vertrag mit einer Firma abgeschlossen, in der dann gearbeitet wird.“ Mindestens sechs und maximal zwölf Monate seien dafür angesetzt. „Das läuft ähnlich ab wie ein Praktikum und danach kann die Ausbildung begonnen werden“, erläutert Desoi weiter.

Um aber den Job wirklich gut ausüben zu können, sind Sprachkenntnisse wichtig. Farhad besuchte, als er nach Salzwedel kam, einen Monat lang einen Deutschkurs in der Kreissvolkshochschule. „Danach durfte ich nicht mehr“, berichtet Farhad. Afghanen dürften nicht mehr, korrigiert er sich. Warum, weiß er nicht.

Peter Desoi klärt auf: „Afghanistan wird nicht als gefährliches Land eingestuft, obwohl dort Krieg herrscht.“ Aber eben nicht überall. Die Menschen könnten ja einfach in sichere Gebiete umsiedeln. Somit reduziert sich die Anerkennungsquote für Afghanen. Nicht aber aus Peter Desois Sicht.

Er hat Farhad bereits bei der Wohnungssuche in der Hansestadt geholfen und berichtet über die Umstände, in denen er den jungen Afghanen kennenlernte: „Ich war in der Gemeinschaftsunterkunft und habe gesehen, dass Farhad zusammen mit zwei weiteren Männern in einem Raum mit nur wenigen Quadratmetern wohnte.“

Daraufhin habe er beschlossen, etwas zu tun. „Nachdem eine Wohnung gefunden war, habe ich den Umzug organisiert.“ Mit seinem privaten Pkw habe Peter Desoi das Hab und Gut transportiert. „Viel hatten sie ja nicht, ein paar Plastiktüten“, sagt er und hebt hilflos die Hände. Die Erstausstattung vom Möbelfundus und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) habe der Landkreis bezahlt.

Noch wohnt Farhad zusammen mit zwei anderen Afghanen in einer Wohnung in der Stadt. Wenn er aber die Ausbildung in der Bäckerei anfängt, möchte er eine eigene Wohnung beziehen. Sein Wunschwohnort wäre jedoch eine größere Stadt. Berlin oder Hamburg zum Beispiel, sinniert er. „Aber es ist nicht so schlimm“, räumt der ehemalige Boxer ein, „Hauptsache, ich habe meine Ruhe und es ist kein Krieg.“

Sein Hobby, das Boxen, vermisst der sportliche Afghane. In Salzwedel könne er das nicht ausüben. Einen Monat lang habe er in Salzwedel Fußball gespielt. „Leider habe ich keine Zeit, weil ich immer arbeite“, sagt er schulterzuckend. Am Wochenende, da habe er Zeit – und nichts zu tun.

„Ab und zu besuche ich eine befreundete deutsche Familie“, erzählt Farhad. „Die Frau ist wie eine Mutter zu mir.“ Seine eigene Familie musste er damals in Afghanistan zurücklassen. Ein Foto von seinen Eltern oder Geschwistern wolle er nicht haben, sagt er und schaut auf seine Hände. Nach einigen Sekunden schließt er die Augen, atmet laut ein und wieder aus. „Ich möchte sie nicht sehen. Das wäre zu traurig für mich.“

Aber Farhad steht in telefonischem Kontakt zu seiner Familie. Ein kleiner Trost für ihn. „Ich würde morgen wieder nach Afghanistan gehen“, sagt Farhad bestimmt. „Aber es ist zu gefährlich dort.“ Sein größter Wunsch ist ein Leben ohne Angst und Gefahr. „Und dass ich arbeiten kann“, fügt Farhad nickend an, als müsste er das Gesagte noch einmal für sich bestätigen.

Mittlerweile ist es kurz vor 15 Uhr. Farhad muss noch einige Waren in der Tafel bereitstellen. Vor der Tür stehen bereits etwa 20 Menschen, die nur darauf warten, dass sie sich öffnet. Farhad öffnet zunächst die Tür des Büros. „Bitteschön“, sagt er freundlich, lächelt und streckt die Hand aus. „Schön, dass wir uns kennengelernt haben.“ Er winkt noch einmal und verschwindet dann im Verkaufsraum der Tafel, wo er, wie jeden Freitagnachmittag, versucht, anderen Menschen das Leben ein Stück zu erleichtern.