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Gedenken Auf den Spuren der Opfer

Vor 74 Jahren wurden mehr als 1000 KZ-Häftlinge in der Feldscheune Isenschnibbe ermordet. Jugendliche gingen kürzlich den Todesmarsch ab.

Von Alexander Rekow 18.04.2019, 04:00

Gardelegen l Es ist ein grauer und kalter April-Tag. Gemeindepädagogin Christel Schwerin geht mit Jugendlichen der Region im Gemeindezentrum Mieste noch einmal den Ablauf durch. Gleich wollen die rund 50 jungen Leute im Alter von etwa 12 bis 17 Jahren mit einer Handvoll Betreuer losmarschieren. Ihr Ziel: Die Gedenkstätte Isenschnibbe, der Ort, an dem am 13. April 1945 insgesamt 1016 KZ-Häftlinge ermordet wurden.

In mehreren Gruppen machen sie sich auf den Weg. Erste Station: Ein Gedenkstein am Bahnhof in Mieste. „Etwa 60 sind auf der Strecke zu finden“, erklärt Karl-Heinz Reuschel aus Gardelegen. Alle würden jeweils von den Anwohnern gepflegt. Reuschel hat sich tief in die Geschichte rund um die Feldscheune Isenschnibbe, den Todesmarsch und weiterer Gräueltaten eingelesen, mit Zeitzeugen gesprochen und Material gesichtet. Heute gibt er sein Wissen an die Jugendlichen weiter.

Es ist mucksmäuschenstill, als er erzählt. Einige halten sich an den Händen, andere blicken fassungslos zu Boden. Hinter jeder Geschichte stecken Schicksale von Menschen, deren Erinnerung der Gardelegener mit seinen Worten wahrt.

So die Geschichte von Mathieu Lambert van Geen. Er war Bürgermeister der Stadt Putten in den Niederlanden. Weil eine Widerstandgruppe in Putten einen Anschlag auf ein Wehrmachtsfahrzeug verübte, legten die Nazis den Ort in Schutt und Asche. 600 Männer wurden in Konzentrationslager deportiert. Auch Mathieu Lambert van Geen. Und auch er trat den Todesmarsch an. Doch van Geen überlebte. Mit Petrus Boon, Zeger de Graaf und Jan Pieper gelang ihm in der Nähe von Ackendorf die Flucht. Beim Gardelegener Pfarrer Dr. Franz am Holzmarkt fanden sie Zuflucht, bis die Amerikaner eintrafen, erzählt Reuschel.

Der Wind bläst eisig um die Nasen der Jugendlichen, stellenweise setzt Schnee ein. Auch damals war April. Im Heute, im April 2019, sind die Jacken der Jugendlichen bis unter das Kinn geschlossen. Wer hat, ist noch mit Schal und Mütze ausgerüstet. „Es ist so furchtbar. Wenn man sich vorstellt, dass die Häftlinge nur mit Lumpen bekleidet waren“, sagt ein Mädchen. Ihre Freundin stimmt ihr nickend zu: „Warme Schuhe hatte ja auch keiner ...“

Die vielen Kilometer strengen auch die Jugendlichen an. Die Rucksäcke werden schwerer, die Füße auch. Für sie ist zum Glück ein Zwischenstopp in Sicht. Im beschaulichen Dorf Sichau macht die Gruppe vor der kleinen Kirche im Ort Station. Auf die Jugendlichen wartet warmer Tee, etwas zu essen.

Karl-Heinz Reuschel verzichtet. Er hat lediglich ein paar kleine Scheiben trockenes Brot dabei. „Mehr hatten die Häftlinge auch nicht“, antwortet er einem Kind, das ihm Kekse anbietet.

Einige Jugendlichen gehen sogar von Haus zu Haus, um etwas zu essen zu erbitten. Auch dies ist Teil der Tour, um die damaligen Verhältnisse greifbarer zu machen.

Der Halt in Sichau hat einen weiteren Grund. In dem kleinen Gotteshaus wartet die 87-Jährige Margot Wanzek, die Urgroßmutter von Felix, eines der teilnehmenden Jugendlichen. „Damals sind die Häftlinge von Mieste gekommen“, erzählt sie den Jugendlichen. Doch nicht alle schafften es noch bis ins Dorf. „Am Gardelegener Stadtweg ging es für einen in den Wald.“ Zurück kam er nicht. „Die Frauenschaft hat ihn beerdigt“, erinnert sich Margot Wanzek, ehe Hannes-Merlin Schulz (14) den Schlussakkord auf der Orgel in der Sichauer Kirche spielt.

Lange verschnaufen ist in dem Dorf aber auch für die jungen Leute von heute nicht angesagt. Schließlich will die Gruppe noch über Breitenfeld zum Übernachtungspunkt nach Zichau. Sichau ist erst ein Drittel der Strecke.

Während alle ihre Rucksäcke aufsetzen, kommt der 14-jährige Marcel Bütow, angesichts des Zeitzeugenberichtes, ins Grübeln. „Das ist alles so schlimm, das muss eine Qual für die Menschen gewesen sein“, sagt der 14-Jährige, während er seine Winterjacke schließt. „Und wenn sie zu langsam waren, wurden sie sogar erschossen“, weiß er aus Berichten. Er muss sich beeilen, um den Anschluss zur Gruppe nicht zu verlieren.

Am Folgetag will die nach einer Station in Estedt die Gedenkstätte Isenschnibbe erreichen, wo eigene Tagebuchaufzeichnungen besprochen werden und die Tour ihren Abschluss finden soll.

Am Vorabend hatten sich alle in einem Planspiel mit dem Thema Demokratie und Diktatur auseinandergesetzt, um zu sehen, wie schnell die Stimmung kippen kann. Das Szenario verdeutlichte, wie sich eine eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit auf die Gesellschaft auswirken kann.