1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Salzwedel
  6. >
  7. Vom Flüchtling zum Klassenbesten

Jugend Vom Flüchtling zum Klassenbesten

Über 5000 Kilometer hat ein 15-Jähriger aus Afghanistan nach Deutschland zurück gelegt. Zu Fuß. Heute ist Salzwedel seine neue Heimat.

Von Cornelius Bischoff 23.07.2020, 10:10

Salzwedel l Bei Nacht und Nebel hatte sich Saifullah Balutch in die Obhut wildfremder Menschen begeben. Drei Monate voller Angst und Ungewissheit lagen zwischen dem Aufbruch des damals 15-Jährigen in der Region Kundus und seiner Ankunft in Salzwedel. „Wir sind fast die ganze Zeit zu Fuß gegangen“, erinnert sich der junge Mann mit den großen dunklen Augen. Schwarze Locken türmen sich über dem schmalen Gesicht. Wer es nicht weiß, käme nicht auf den Gedanken, dass Saifullah Balutch erst im Mai dieses Jahres seinen 18. Geburtstag gefeiert hat.

Der anhaltende Bürgerkrieg, die Übergriffe muslimischer Fanatiker, deren heimtückische Sprengfallen Kinder und Jugendliche vom Schulbesuch abhalten sollen, all das hatte – erzählt Balutch – bei seinem Onkel den Entschluss reifen lassen, Geld in die Hände professioneller Schleuser zu legen, um dem halbwüchsigen Neffen eine Zukunft außerhalb der Heimat zu ermöglichen.In Serbien war die Gruppe auf einen weiteren Zug mit Flüchtlingen gestoßen: „Da habe ich meinen Cousin gefunden“, erzählt Balutch.

Den restlichen Weg hatten die 15-jährigen Jungen gemeinsam zurückgelegt. Heute leben beide im Salzwedeler Hanse-Haus. Kontakt zu ihrer Familie in Afghanistan gebe es kaum. „Das Internet geht nur selten“, sagt Balutch. Damit ein Brief die Eltern erreiche, sei es üblich, 100 Euro Schmiergeld zusätzlich in den Umschlag zu stecken.

Dass die Wahl des jungen Mannes auf Deutschland gefallen war, sei ein Verdienst der deutschen Soldaten, die seit Jahren ihren Dienst in der Region Kundus versehen. „Die Soldaten waren immer freundlich“, erinnert sich Balutch. Sie hätten Stifte und Papier in entlegene Schulen gebracht, wenn die eigentlich zuständige Schule im Visier der Taliban-Scharfschützen gelegen habe, und die Menschen mit Wasser und Lebensmitteln versorgt. „Sie haben uns wie Menschen behandelt“, sagt Balutch. Da habe sein Entschluss festgestanden, allen Mut zusammen zu nehmen und eine Zukunft in Deutschland zu suchen. Ohne Sprachkenntnisse und ohne eine Vorstellung von der fremden Kultur.

In Bayern waren die beiden jungen Leute der Polizei in die Arme gelaufen. „Wir hatten Angst und wussten nicht wohin“, erinnert sich Balutch. Die Schleuser hatten sich mit dem Rat davon gemacht, in einen Zug zu steigen und sich auf der Toilette zu verstecken. „Das haben wir gemacht“, sagt Balutch.

Einen ganzen Tag hatten sich die Jungs in der engen Kabine verbarrikadiert. Dann kam die Polizei. Das war im Oktober 2016. Nach einer kurzen Station in einer Sammelunterkunft in Passau waren Balutch und sein Cousin schließlich in Salzwedel angekommen.

Nach etwa drei Monaten, in denen er sich mit Händen und Füßen verständigt hatte, habe er in der Lessing-Schule erste Freunde gefunden. „Mathematik und Sport waren meine Lieblingsfächer“, erzählt der junge Mann, „das geht auch ohne Kenntnis der Sprache.“ Nach der Schule habe er täglich zwei Stunden über einem Wörterbuch in seiner Muttersprache Paschtu gesessen und deutsche Vokabeln gelernt. Mit Erfolg. Den Hauptschulabschluss habe Balutch 2019 als Jahrgangsbester absolviert. Sein Zeugnis der zehnten Klasse hatte er vor wenigen Tagen erhalten: Die Position des Klassenbesten habe er sich diesmal mit einem Mitschüler geteilt, dessen Familie ebenfalls nicht aus Deutschland stammt. Vor seiner Zukunft in der neuen Heimat ist Balutch nicht bange. „Ich möchte Optiker oder Hörgeräte-Akustiker werden“, sagt er. „Ich habe gesehen, wie die Deutschen meinen Landsleuten geholfen haben.“

Mit der künftigen Arbeit in seinem Traumberuf möchte Balutch den Menschen in Deutschland etwas zurückgeben. Einige Bewerbungen habe er schon geschrieben. Nun drücken Mitbewohner und Erzieher im Hanse-Haus die Daumen, dass er bald zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Saifullah Balutch hofft, dass er eine Lehrstelle in Salzwedel findet. „Ich habe eine neue Familie bekommen“, sagt Balutch und fügt hinzu: „Noch einmal möchte ich nicht alles hinter mir lassen.“