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Mittagstisch Zwischen Ragout und lieben Worten

Seit neun Jahren kocht Regina Holz im Mehrgenerationenhaus Salzwedel für Senioren. Die Volksstimme durfte der Köchin in die Töpfe schauen.

Von Alexander Rekow 21.12.2017, 11:12

Salzwedel l Es sind nur knapp zwei Grad, als Regina Holz an diesem grauen Dezembermorgen das kleine Türchen zum Seiteneingang vom Mehrgenerationenhaus (MGH) in Salzwedel aufschließt. Von ihren Kollegen ist um diese Zeit noch keiner da. Ihr Mann Egon hat sie wie jeden Morgen mit dem Auto zur Arbeit gebracht. Schneeregen weht ihr ins Gesicht. Ein kurzer Blick über die Brille auf das Außengelände, noch eine schnelle Zigarette. Dann kommt Holz an ihrem Arbeitsplatz an – die Küche des MGH. Ein paar Quadratmeter, die ihr Leben prägten und noch heute bestimmen. 16 grüne Schranktüren, hinter denen sich zahlreiche Pfannen und Töpfe, Siebe und Bräter sowie Teller und Schälchen verbergen. Vier große Schubladen, mit Besteck, Quirls und Sieben – also alles, was eine Großküche benötigt. Nur arbeiten in der Küche keine Schar an Köchen. Hier ist Regina Holz Chefköchin, Küchenassistentin und Kellnerin zugleich. Quasi eine kulinarische Tausendsasserin.

Geboren wurde Regina Holz, die von so ziemlich allen, die sie kennen, „Biene“ genannt wird, in ihrem heutigen Wohnzimmer in Cheine. Das Haus in dem Salzwedeler Ortsteil ist ihr Geburts- und Elternhaus. Zentraler Punkt in ihren vier Wänden – wie sollte es auch anders sein – ist ihre Küche. Neben einem modernen Herd kocht Holz auch manchmal auf einer alten Küchenhexe. In der Mitte ein großer Holztisch mit Holzstühlen. So ziemlich alles in ihrem bisherigem Leben spielte sich in der Küche ab – bis heute. Hier beginnt und endet jeder Tag.

„Die Volksstimme habe ich heute noch nicht gelesen“, sagt sie. Ein straffer Zeitplan wartet auf die Köchin. Vorbereitungen für das Weihnachtsessen am Wochenende und das Essen für den Mittagstisch stehen an. Sonst gehört ein Kaffee und die Volksstimme zu ihrem morgendlichen Ritual. „Ich muss ja wissen, was in der Stadt los ist und die Angebote lesen“, sagt sie. Schließlich bietet Regina Holz ihr Essen für 3,50 Euro an. „Wo bekommt man sonst eine Forelle zu dem Preis? Oder wo gibt es noch Lose Wurst zum Mittag?“, fragt sich Harry Helbig. Der Hamburger ist 2014 nach Salzwedel gezogen und kommt seitdem zum Essen in die Einrichtung. „Das ist ein rundum Sorglospaket – mit Liebe zubereitet“, schwärmt Helbig: „Quasi Essen wie bei Muttern.“

In der Küche des MGH setzt Regina Holz gerade eine Mehlschwitze an. Kohlrabigemüse mit Mettklößchen und Salzkartoffeln stehen auf dem Speiseplan. Ein Dessert mit Mandarinen wartet in einer riesigen Schüssel. Im Radio läuft derweil „Last Chrismas“ – Holz summt leise mit. Etwa 20 Gäste werden heute kommen. Die Köchin ist bestens vorbereitet. Die Kartoffeln hat sie am Vortag schon geschält, den Kohlrabi ebenso. Nach ein paar Handgriffen ist die Spülmaschine, die Holz nur „Minna“ nennt, geleert und fertig für die nächste Runde. Nochmal Zeit für eine Zigarette auf der Terrasse. Das Rauchen lässt sich „Biene“ nicht nehmen. "Für eine Puffe ist immer Zeit", sagt sie.

Gegen 10 Uhr kommt der erste Gast. „Na, Viola, Käffchen“, ruft Holz ihr entgegen. „Klar“, bekommt sie zur Antwort. Ein schwarzer Kaffee mit einem Schuss heißem Wasser. Die Köchin kennt ihre Gäste und deren Vorlieben, geht auf die individuellen Wünsche ein. Währenddessen kommt die Seniorin Bernhilde Kußlick langsam die Treppe hoch. „Ich bin heute etwas früher dran“, stönt sie und setzt sich zu Holz. Seit „Biene“ im MGH kocht, kommt auch sie täglich. „Ach, kein Problem – setz dich ruhig schon rein“, antwortet die Köchin. „Ich habe hier noch nicht ein Essen gegessen, dass mir nicht geschmeckt hat“, schwärmt Kußlick.

Das Schmoren, Braten und Dämpfen kennt Regina Holz aus dem Effeff. Zu DDR-Zeiten hat sie im Salzwedeler Kulturhaus eine Ausbildung zur Köchin gemacht. Nach der Wende heuerte „Biene“ in einem griechischen Restaurant an der Arendseer Straße an, in welchem sie rund 15 Jahre die Kochlöffel schwang. Ihre Metaxasoße ist heute noch unter Freunden ein Geheimtipp. Als dann der damalige Pächter das Restaurant hinter sich ließ, musste auch Regina Holz etwas neues finden. Mit der Mehrgenerationenküche hat sie dies 2009 auch getan. Anfangs noch ehrenamtlich.

Regina Holz liebt ihre Arbeit, das merkt man ihr an. Stets ein Lächeln auf den Lippen, ein freundliches Wort auf Lager. Schlechte Laune ist nicht ihr Ding. „Ich ziehe aus allem nur das Positive, sonst werde ich ja bekloppt“, scherzt sie. Daher ist ihre Devise helfen, statt den Kopf in den Sand zu stecken. „Zur Zeit muss unser Auto draußen schlafen, weil ein Nachbar gerade einen Unterstellplatz für ein Sofa braucht“, erzählt sie und lacht. Und wenn sie ihren Nachbarn nicht hilft, dann eben den Gästen - oder hört einfach mal zu. „Ich habe immer ein offenes Ohr“, sagt sie: „nur ehrlich müssen die Menschen sein – dass ist mir sehr wichtig“.

Die Stühle beim Mittagstisch füllen sich. Nach und nach kommen immer mehr betagte Gäste in die Einrichtung. Sie alle eint der Wunsch nach einem frisch gekochtem Mittag und Geselligkeit. „Sie ist so nett und es schmeckt immer wie zu Hause“, schwärmt Maritta Petz. Sie kommt täglich mit ihrer Freundin Gertrud Müller zum Mittagessen oder zum Seniorencafé. „Gesellschaft und das Essen – man isst halt nicht allein“, pflichtet Müller ihrer Freundin bei. „Sie ist einfach eine zauberhaft Köchin“, sagt Helga Haeußer. Alle Frauen an einem Tisch, stets Gelächter aus ihrer Ecke. Sie plaudern über den Tag, was war und was kommt. Nach und nach hat jeder seinen Stammplatz eingenommen, das hat sich die Jahre gefestigt. Freundschaften sind unter der Obhut der Köchin entstanden. „Ich möchte niemanden mehr missen“, sagt Regina Holz. Es duftet wie bei Großmutter zum Mittagessen - die Gäste schielen zu den dampfenden großen Töpfen.

Dass sie noch im MGH die Kochlöffel schwingt, ist nicht selbstverständlich. Nachdem sich der gemeinnützige Träger „Ausbildung & Arbeit“ zum Ende 2014 aus der Trägerschaft zurück zog, stand der Mittagstisch zeitweise auf der Kippe. Die Kreisverband der AWO in Kalbe sah mit dem Essensangebot für Senioren seine eigene Gemeinnützigkeit in Gefahr. Glück im Unglück für Holz und ihre Gäste: Kurzerhand sprangen die Paten Kerstin und Gaetano Caliva ein und retteten das Angebot für die Salzwedeler Senioren.

In diesem Jahr hat dann schließlich das "Soziales Netzwerk für weltoffene und demokratische Jugend- und Sozialarbeit im Altmarkkreis Salzwedel" (kurz SoNet) die Trägerschaft inne. „Ich finde es super, dass das SoNet den Mittagstisch übernommen hat“, freut sich Holz und verteilt das Essen. Für Sebastian Dobras, Einrichtungsleiter des MGH, war das ein Glücksgriff. „Ein nahtloser Übergang war uns sehr wichtig – dass ihre Arbeit weiter geht“, sagt er. Harry Helbig brachte es schließlich auf den Punkt: „Das hier, das ist die Basis! So was sollte dauerhaft gefördert werden.“

Während die Gäste ihr Kohlrabigemüse mit Mettklößchen essen, macht sich Regina Holz bereits Gedanken um das Weihnachtsessen. „Es haben sich über 30 Leute angemeldet“, sagt sie und starrt an die Decke. Kein Wunder, die Köchin serviert ihr Drei-Gänge-Menü, so wie alles, was sie kocht, als niedrigschwelliges Angebot. Heißt: das Essensgeld deckt die Unkosten. Somit bietet „Biene“ ihren Gästen Hochzeitssuppe, Entenbraten mit Rotkohl, Semmelknödel und Kartoffel sowie ein Schichtdessert zum kleinen Preis an. Ganz allein wird sie an dem Tag aber nicht sein. Helmut Markewitz, Hausmeister im MGH, und Jan Hoefert, der seinen Freiwilligendienst in der Einrichtung macht, greifen der Köchin unter die Arme. „Ich habe hier viele Freunde gewonnen, und die helfen alle mit“, sagt Regina Holz. Von der Frau des Hausmeisters bis hin zu den Gästen. „Auch die Senioren greifen zum Messer und putzen Gemüse, wenn Not am Mann ist“, erklärt die Köchin. Das familiäre Verhältnis zwischen Holz und ihren Gästen ist allgegenwärtig. „Die Senioren sind sogar mit Rufbus an meinem Geburtstag nach Cheine gekommen“, ist sie begeistert. Über die vielen Jahre sind sich alle vertraut geworden. Regina Holz hat viele kommen und gehen sehen. Arbeitgeber und Kollegen haben gewechselt. Selbst 15 verstorbene Gäste hat „Biene“ bereits zu betrauern. „Das ist verdammt schwer“, seufzt sie.

Regina Holz hat abermals einen Tag in der Küche hinter sich gebracht. Das Essen ist alle, die Küche sauber, die Gäste glücklich und das Weihnachtsessen vorbereitet. Egon Holz wartet bereits auf seine Frau. Noch ein paar liebe Worte für die Kinder, eine Zigarette mit ihrem Mann Egon – dann fährt sie einkaufen: „Wir brauchen noch Zungenragout.“