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Naturschutz Reisepässe für die Wiesenweihe

Im Altmarkkreis Salzwedel leben 22 Brutpaare der streng geschützten Greifvögel. Die Volksstimme schaute beim Beringen über die Schulter.

Von Alexander Rekow 15.07.2019, 12:00

Valfitz l Es ist ein warmer Juli-Tag, als sich Dieter Westphal aus dem Drömling in Richtung Salzwedel auf den Weg macht. Der große Mann mit Schnauzbart ist dort Naturschutzbeauftragter im Biosphärenreservat. Aber nicht heute. Eine andere Aufgabe wartet auf ihn. Denn Dieter Westphal ist auch Beringer, verpasst Vögeln gewissermaßen einen Ausweis. Und genau diese Fähigkeit wird an diesem Tag benötigt.

An einem Stoppelacker zwischen den verträumten Dörfern Valfitz und Groß Gischau auf einer schmalen Kreisstraße steht René Foger. Über ihn kreist ein Rotmilan, in der Ferne ruft ein Mäusebussard. Es ist ein schöner Flecken Erde, gerahmt von der Natur. Autos fahren hier nur wenige entlang. Der Mitarbeiter des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) zeigt auf ein abgeerntetes Gerstenfeld. Genau genommen auf ein fast abgeerntetes Feld. Denn auf einer Fläche von etwa 30 mal 30 Metern steht noch die Gerste. „Dort hat ein Wiesenweihen-Pärchen gebrütet“, sagt er. Und dies sei keine Selbstverständlichkeit. In der gesamten Altmark würden etwa 35 Paare brüten. Davon 22 im Altmarkkreis. „Die Tiere sind stark gefährdet“, erzählt Foger. Denn die Greifvögel brüten eigentlich in Feuchtwiesen. „Die gibt es aber bis auf Hoyersburg kaum noch.“ Daher seien die seltenen Vögel in den 70ern auf Felder ausgewichen. Gerste und Rogen, beispielsweise. Doch auch da gibt es ein Problem: die Landwirtschaft. Mit der Ernte sterben viele Tiere, die dort Schutz suchen.

Aber nicht zwischen Valfitz und Groß Gischau. Denn hier hat die Wiesenweihe einen wichtigen Verbündeten: Matthias Schulz. Der Geschäftsführer der Agrargesellschaft Gischau hat nämlich bewusst die 30 mal 30 Meter große Fläche stehen lassen. Dort können Alttiere ihre Jungen ungestört großziehen. Ein kleines Gatter vom BUND inmitten der goldgelben Gerste schützt sie vor Fressfeinden wie Fuchs oder Wildschwein.

Langsam trudeln weitere Autos an dem Stoppelacker ein. Beringer Dieter Westphal, Landwirt Matthias Schulz und der ehrenamtliche Naturschützer Uwe Külper, der vor seinem Renteneintritt bei der unteren Naturschutzbehörde wirkte. Die Männer prüfen ihr Equipment. Zwei Kameras für den Lichtbildbeweis, Klemmbrett, Stift, Ringe und Zange.

„Hast du noch Beutel?“, ruft Dieter Westphal René Foger zu und kramt in seinem Kofferraum. „Ja, ich habe drei“, antwortet Foger und hält die Stoffbeutel in die Luft. Westphal nickt: „Dann kann‘s ja losgehen.“

Langsam nähern sich die beiden Männer dem Teil des Feldes, auf dem die Gerste noch steht. Ein Blick in das Gatter: „Da sitzt einer“, sagt Foger und zeigt auf einen Vogel. Westphal hat einen Zweiten erspäht. Der Beringer steigt mit einem großen Schritt über das Gatter und greift das erste Tier, welches sofort im Beutel von René Foger landet. „Dort ist es dunkel und die Vögel haben nicht so einen Stress“, erklärt der BUND Mitarbeiter. Während Foger noch erläutert, hat der Beringer bereits das zweite Jungtier in seiner großen Hand. Gleiches Spiel nochmal: Beutel auf, Vogel weg. „Pass auf, da liegt noch ein Ei“, merkt Foger an, während der Naturschutzbeauftrage den dritten Vogel eintütet. Ein Brutpaar mit drei Jungtieren, eigentlich wäre der Fall nun durch. Doch Dieter Westphal sieht ein viertes Tier, welches zwischen der Gerste Schutz sucht. „Haben wir noch einen Beutel“, fragt er. René Foger verneint. Schulterzuckend schnappt sich Westphal den kleinen Greifvogel und bringt ihn wohlbehütet in seiner großen Hand zu den Autos.

Landwirt Matthias Schulz wartet da schon ungeduldig mit Uwe Külper an der Kreisstraße. Seit 2005 gibt es für die Wiesenweihe Platz auf den Feldern der Agrargesellschaft. „Wir müssen die Natur unterstützen“, sagt Schulz, „sonst schießen wir uns ein Eigentor“. Umweltschutz liegt dem Landwirt am Herzen. Er bekommt die Auswirkungen des Klimawandels unmittelbar auf seinen trockenen Äckern zu spüren.

Dieter Westphal öffnet seine braune Leder-Umhängetasche. Während die Jungvögel in den Beuteln ausharren, legt er sein Werkzeug zurecht. Der Naturschutzbeauftragte holt mehrere Ringe hervor. Sowohl aus Metal, als auch aus Plastik. „Die aus Metall tragen eine Kennnummer“, erklärt René Foger. Diese sind von der Vogelwarte Hiddensee. Die aus Kunststoff leuchten in strahlendem Rot. „Die sind dafür, dass man die Ringe aus der Entfernung mit dem Fernglas sehen kann“, erzählt der BUND-Mitarbeiter weiter. „Der Osten ist rot“, witzelt er. Niedersachsen beispielsweise habe Grüne, Nordrhein-Westfalen Weiße.

Seit 2008 beringt Dieter Westphal Vögel. „Schleiereule und Waldkautz sind ziemlich relaxt“, sagt er. Anderes bei Turmfalke und Rohrweihe. „Da muss man aufpassen. Eine falsche Bewegung und sie sind im Finger.“ Ernsthaft verletzt wurde er noch nicht. Nur bei einem Graureier sei es mal brenzlich geworden. Heute aber ist es die Wiesenweihe.

Der erste Vogel liegt tiefenentspannt in Westphals Hand. Nach wenigen Sekunden ist es auch schon vorbei. Das Tier heißt nun HA-03594. Nun will Landwirt Schulz auch selbst zupacken. Der zweite Vogel macht noch ziemlich Rabatz im Beutel. Ob die Idee klug war? Dieter Westphal greift beherzt hinein und übergibt ihn Matthias Schulz. Sofort entspannt sich das Tier in der Hand des Landwirtes. Ring rum, Zange ran, fertig.

HA-03595, sein sperriger Name. Die beiden anderen Jungvögel folgen mit fortlaufender Nummer und erhalten ebenfalls ihre Reisepässe in Ringform. Doch bevor die Tiere ihre Reise antreten, bleiben sie noch bis Ende August. Bis dahin werden sie von den Alttieren gefüttert, vorwiegend mit Mäusen oder Feldvögeln. Sobald sie ihr Gatter verlassen, bekommt Landwirt Matthias Schulz einen Anruf vom BUND und die Freigabe, dass er auch den Rest der Gerste vom Feld holen kann.

„Wir sind auf Landwirte wie Herrn Schulz angewiesen“, erzählt René Foger. Nur so können artenbedrohte Tiere wie die Wiesenweihe geschützt werden. Immer mehr Landwirte würden das erkennen und melden sich bei Foger. „Naturschutz und Landwirtschaft – das funktioniert“, ist sich Matthias Schulz sicher.

In eineinhalb Monaten werden aus den Jungtieren mit ihrem puscheligen Gefieder stattliche Greifvögel. Dann treten sie die große Reise an, für die sie heute ihre Pässe bekamen. „Nigeria, Niger, Burkina Faso“, zählt Foger als mögliche Reiseziele der Vögel auf. Die westeuropäischen Artgenossen würde es eher nach Mali verschlagen.

Auch im nächsten Jahr werden die Männer wohl wieder zwischen Valfitz und Groß Gischau auf der Kreisstraße stehen, auf das 30-mal-30-Meter-Feld blicken und Vögel beringen.