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Rezension Fesselnd, einfühlsam, mahnend

Buchautor Tim Pröse sprach mit Widerstandskämpfern, Holocaust-Überlebenden und Menschenrettern. Die Parallelen zum Heute sind erschreckend.

Von Alexander Rekow 30.11.2018, 13:29

Salzwedel l Ihre Namen sollten wir nie vergessen – ihre Geschichten auf ewig wahren. Es sind die, die sich dem Nazi-Schrecken entgegenstellten. Die, die unter Einsatz ihres Lebens eine bessere Welt forderten. Die, die der Tötungsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg ihre Stirn boten. Berthold Beitz, die Geschwister Sophie und Hans Scholl, Oberst Claus Schenk Graf Stauffenberg oder Oskar Schindler. Menschen und ihre Wirken, die den Lauf der Geschichte beeinflussten – dass Leben anderer retten sollten. Buchautor Tim Pröse sprach in mehr als 20 Jahren Recherche mit ihren Hinterbliebenen, mit Wegbegleitern und Vertrauten. Schaute in ihre Tagebücher und Aufzeichnungen. Er traf Gerettete, Überlebende, Opfer, Zeitzeugen und Deserteure.

Was blieb ist ein Buch. Mehr als 300 Seiten stark. Fesselnd, einfühlsam und gewaltig. Worte, die wie ein Seitenhieb auf die Unmenschlichkeit wirken. Sätze, in denen Fassungslosigkeit und Trauer einhergehen. Ein Buch, von dem man hofft, dass es die meisten Menschen lesen.

Die Ruhe im Dachgeschoss bei seiner Lesung in der Stadt- und Kreisbibliothek in Salzwedel war beängstigend und faszinierend zugleich. Das Fallen einer Stecknadel käme in der Akustik einem Erdrutsch gleich. Gebannt hingen die Zuhörer an den Lippen des Autors, der es verstand, den Passagen den nötigen Nachdruck zu verleihen und mit flüsternder Stimme die Vergangenheit in die Gegenwart zu katapultieren, dass es einem eiskalt den Rücken hinunter lief.

Eine Protagonistin für sein Buch war Inge Scholl, die Schwester der ermordeten Widerstandskämpfer Sophie und Hans Scholl von der Weißen Rose. Pröse studierte für sein Buch im Münchener Institut für Zeitgeschichte Tausende Kopien ihre Unterlagen, Aufzeichnungen, Briefe und Zeichnungen. Was bleibt sind tiefe Einblicke in die Familie Scholl, in Beweggründe der Geschwister, die in der Weißen Rose aktiv waren. Selbst der handschriftliche Zettel des Henkers, der sich die letzten Wünsche, darunter Zigaretten und Streichhölzer, notierte, ist dabei. Auch Erinnerungen an die Beisetzung, das letzte Streicheln der Mutter über den Sarg ihrer Kinder wird beschrieben. Eine Gänsehautstimmung mit teils Tränen in den Augen.

Interessant ist auch die mutige Leistung von Berthold Beitz. Nicht die, dass der Manager des Essener Krupp-Konzerns die Geschicke der Firma leitete. Vielmehr ist es die, dass Beitz zwischen 1941 und 1944 etwa 1500 jüdischen Menschen das Leben rettete. Wie der Mann, der eigentlich alles hatte, sein Leben riskierte, um vorbei an den SS-Schergen mit ihren Wachhunden die Waggons zum Konzentrationslager öffnete. Eine ähnliche Geschichte wie die des Oskar Schindler. Nur dass die Frau Schindlers, Emilie, nach den Ausführungen Pröses, in der Geschichte kaum Raum bekam, wie beispielsweise im Film „Schindlers Liste“, aber dennoch an der Rettung großen Anteil hatte.

Tim Pröse vermochte es, die Helden jener Zeit ins Heute zu holen, Parallelen zu ziehen und die Sinne für die Gefahren unserer Zeit zu schärfen. Das tat er nicht, in dem er mit der Keule auf Probleme eindrosch, sondern die Herzen der Menschen feinfühlig öffnete und an den Verstand appellierte.