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Russland Kein „Sa sdorowje“ für Gorbatschow

Von vielen in Salzwedel lebenden Russen und Russlanddeutschen bekommt Michail Gorbatschow zu seinem 90. Geburtstag keine Glückwünsche.

Von Martin Höfig 02.03.2021, 19:00

Salzwedel l Während Michail Gorbatschow 1990 den Friedensnobelpreis erhielt und in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland mit verschiedenen Ehrungen bedacht wurde, hat er es sich mit den meisten seiner Landsleute offenbar gründlich verdorben. Es scheint so, als hätte der Mann eine Lawine losgetreten, die alles Gutgemeinte mit sich fortgerissen hat.

Zumindest bei seinen Landsleuten in Salzwedel hat der bei den Deutschen so beliebte Politiker nämlich so gar keinen guten Stand.

Wenn gegenüber der Russlanddeutschen Irene Schulz die Rede auf Michail Gorbatschow kommt, immerhin wird der heute 90 Jahre alt, wird sie rot im Gesicht – und zwar vor Wut. „Er hat nur Chaos gebracht“, sagt sie. Während er an der Macht war, habe es in Russland mehrere Inflationen gegeben, erinnert sie sich. „Und mit der Herauslösung so wichtiger Länder wie Georgien oder der Ukraine ist dann alles zusammengebrochen“, schimpft sie. Dagegen sei die Sowjetunion vor Gorbatschow durchaus stabil gewesen.

Gerade die Ukraine hätte mit seinen vielen Produktionsbetrieben einen enorm wichtigen Wirtschaftsstandort für Russland dargestellt. „Als das wegbrach war das so, als würde man jetzt die VW-Produktion in Wolfsburg dichtmachen“, zieht Irene Schulz einen Vergleich. „Das würde die Wirtschaft ebenso im ganzen Land und darüber hinaus stilllegen.“

Irene und ihr Mann Arthur sind 1996 aus Karaganda in Kasachstan nach Deutschland und so nach Salzwedel gekommen. Ihr Mann, der 55-jährige Arthur Schulz, sieht den letzten sowjetischen Staatschef etwas differenzierter. „Gorbatschow hat es gut gemeint mit Glasnost (Offenheit) und Perestroika (gesellschaftlicher Umbau), aber er war viel zu schnell“, sagt er. Die Russen seien noch längst nicht für die Veränderungen bereit gewesen, die er anstoßen wollte. Nach 70 Jahren sozialistischer Bürokratie hätten die meisten Russen erst mal gar nicht verstanden, wie man mehr Offenheit und Umbau in der Gesellschaft umsetzen könne, analysiert er. „Sie waren gewohnt, von oben Befehle zu bekommen und diese auszuführen.“ Und als sie dann von Gorbatschow hörten, sie müssten den Wein und die Obstbäume vernichten, damit die Russen nicht mehr so viel Alkohol trinken, hätten sie in den Weinbaugebieten und auf den Obstplantagen eben kurzen Prozess gemacht, so Schulz. Zum Beispiel für den berühmten georgischen Wein sei das damals das Aus gewesen. Die Menschen hätten einfach nichts mit dieser neuen Freiheit anfangen können.

Viele der ehemaligen Sowjetbürger würden sich daran erinnern, dass Gorbatschow sehr gut reden konnte, erzählen die Gesprächspartner im Volksstimme-Gespräch. So denkt auch die 45-jährige Larissa (Nachname der Redaktion bekannt) an ihre Kindheit, als Mitte der 1980er-Jahre im sowjetischen Fernsehen plötzlich kaum noch Filme gezeigt worden seien, dafür ständig die langen Reden des neuen KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion)-Chefs.

Und auch Arthur Schulz weiß noch, wie gebannt damals alle Michail Gorbatschow im Fernsehen gelauscht haben. „Wir fragten uns: Was für einen Aufbruch will dieser Mann!? Es klang zu schön, um wahr zu sein. Und es stellte sich ja auch schnell heraus, dass es so war.“

Ein älterer Mann gesellt sich während des Volksstimme-Gespräches zu der diskutierenden Gruppe. Er sei auch aus Kasachstan nach Deutschland gekommen, bestätigt er. Doch bei der Frage nach Gorbatschow winkt er zunächst ab. „Ich finde ihn nicht gut“, sagt er kurz angebunden, holt dann aber doch weiter aus: „Ich hatte mein halbes Leben lang Geld gespart und als Gorbatschow kam, kam die Inflation und mein Geld war innerhalb weniger Wochen nichts mehr wert. Alles weg“, sagt er. Mund und Nase von einer FFP2-Maske bedeckt sieht man seine Wut darüber nur in seinen hellbraunen Augen aufblitzen.

Am Ende kommt das Gespräch noch auf die aktuelle Situation in und um Russland. „Dass die Nato heute so nah an Russland herangerückt ist, hat auch mit Gorbatschow zu tun“, glaubt Arthur. Er kann bis heute nicht fassen, dass der nun 90-Jährige sich damals mit einer mündlichen Vereinbarung gegen eine Nato-Osterweiterung zufriedengegeben hat. „Er hat diesen Leuten einfach vertraut. Vielleicht war er viel zu naiv.“

Seine Frau Irene, immer noch voller Zorn, vermutet da ganz andere Hintergründe. „Die haben ihm sicher viel Geld gegeben, dass er der deutschen Einheit zustimmt und es auch keinen schriftlichen Vertrag gegen eine Nato-Osterweiterung gibt“, schimpft sie.

Fazit: Eine Glückwunschkarte oder auch ein „sa sdorowje“ (Prost) – für die Gesundheit – würde dem einstigen und letzten Parteichef der Sowjetunion heute offensichtlich keiner der in Salzwedel lebenden Russen und Russlanddeutschen senden.