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80. Geburtstag Wenn die Berufung nie aufhört

Rüdiger Meussling begeht seinen 80. Geburtstag. Der Plötzkyer ist Pfarrer im (Un-)Ruhestand. Er kann auf ein bewegtes Leben blicken.

Von Heike Liensdorf 03.01.2019, 00:01

Plötzky l Rüdiger Meussling weiß, wofür sein Herz schlägt – da ist die Zahl der Lebensjahre egal. 27 Jahre ist er Pfarrer in Plötzky, Pretzien und Ranies gewesen. Seit 2000 ist er im Ruhestand – oder auch nicht. Er ist immer noch mit Leidenschaft dabei, den christlichen Glauben zu vermitteln, für die Gemeindeglieder da zu sein, für „seine“ Kirchen etwas zu bewegen. Jetzt erst hat er seinen 56. Heiligabend-Gottesdienst gehalten.

Der Jubilar hat viel erreicht im Leben: zahlreiche Kirchen renoviert und sich damit den liebevollen Beinamen „Baupfarrer“ erworben, den Pretziener Musiksommer aus der Taufe gehoben und bis vor wenigen Jahren organisiert, hohe Auszeichnungen erhalten ... Immer an seiner Seite seine Frau Maria. „Sie ist mein größtes Geschenk“, betont er im Gespräch immer und immer wieder. Gemeinsam haben sie drei Kinder, auf die sie sehr stolz sind.

Doch was hat Rüdiger Meussling in den vergangenen 80 Jahren geprägt? Im Gespräch hat die Volksstimme ihn nach den wichtigsten Momenten in seinen acht Lebensjahrzehnten gefragt.

Er wird am wunderschönen Arendsee groß. Doch es ist Krieg, bei jedem Alarm geht es in den Luftschutzkeller. Die Familie ist arm, er wächst bescheiden auf.

In der Jungen Gemeinde trifft Rüdiger Meussling auf Pfarrer Kannicht. „Der konnte aber sehr viel.“ Er begeistert ihn. Ebenso „Missionsinspektor Althausen aus Berlin“, der eines Tages vor der Jungen Gemeinde von seiner Missionsarbeit in der ganzen Welt berichtet. „Du hast das Zeug, einmal Pfarrer zu werden“, sagt er zu Rüdiger Meussling, der sehr aufmerksam zuhört. „Da war ich 17,18 Jahre alt und seine Worte waren für mich so etwas wie eine Berufung.“ Er lernt bei seinem Großvater Gottlieb Klipp das Handwerk des Buchbinders und legt Wanderjahre ein, arbeitet in einer Glaserei, in einer Großbuchbinderei. In Halle sucht er die Nähe zur Studentengemeinde. Er hört von einer Predigerschule und in ihm reift ein Entschluss.

Er möchte Pfarrer werden. Er besucht die Predigerschule Wittenberg, absolviert Praktika im Stendaler Dom und in Dommitzsch bei Torgau, macht seinen Abschluss im Augustinerkloster Erfurt. „1962 habe ich eine Frau im Kirchenchor kennengelernt“, erzählt er. Seine Maria. Eine Restauratorin. Ein Glücksfall, denn sie ist Pfarrerstochter und weiß somit um die Aufgaben eines Pfarrers. Ein Jahr später heiraten sie. Er tritt seine erste Pfarrstelle an. In Baben bei Stendal. „Das Pfarrhaus war völlig heruntergekommen. Auch die Kirchen waren in einem schlechten Zustand“, erinnert er sich. Aber die Gemeinde sei eine aus sehr stark im Glauben stehenden Menschen gewesen. „Ich bin sonntags nur unterwegs gewesen. Dazu Dorfmissions- und Bibelwochen. Ich hatte kein Auto, immer mit dem Moped.“ Fast nebenher renovieren sie Kirche und Pfarrhaus.

Das neu gebaute Kraftwerk in Arneburg nimmt ihm die Jugendlichen. „Gefühlt sind 1973 alle auf einen Schlag dorthin gezogen“, erzählt er. Meusslings überlegen, ihre Zelte woanders aufzuschlagen. Doch sie suchen nicht, sie lassen sich finden. „Wir haben in einem kircheneigenen Bungalow am Heinrichstalsee bei Gommern Urlaub gemacht. Pfarrer Berger aus Plötzky hat uns zum, Kaffee eingeladen und gesagt, dass er bald in den Ruhestand geht und einen Nachfolger sucht“, weiß Rüdiger Meussling noch und schwärmt vom Heidelbeerkuchen, der so lecker gewesen ist. Sie überlegen kurz und sagen zu.

Wieder alles auf Anfang: ein Pfarrhaus im maroden Zustand, kaputte Kirchen in Plötzky, Pretzien und Ranies. Mittlerweile gehören zur Familie auch drei Kinder. „Die Bau-Erfahrung aus der Altmark kam uns zugute, dazu die Erfindungsgabe meiner Frau und meine handwerklichen Kenntnisse.“

Sie machen sich an die Arbeit. Seine Frau Maria baut sich eine eigene Werkstatt. Gemeinsam nehmen sie sich die Gotteshäuser vor. Sie sollen heller, freundlicher werden. Als erstes muss das Dach der Ranieser Kirche erneuert werden. Es regnet durch. Dann ist St. Thomas in Pretzien dran. „Wir wollten die Wände streichen und haben dabei die wunderschönen Wandmalereien entdeckt. Das war im August 1973.“ Ihr Engagement passt den Staats-Oberen nicht. Sie bekommen das Angebot, ausreisen zu dürfen – und lehnen dankend ab. Sie möchten hier etwas bewegen, den Menschen etwas bieten – mit und in der Kirche. Deshalb auch der „Pretziener Musiksommer“. Seit der Premiere 1975 ist die Reihe ein Selbstläufer. „Musik ist eine wunderbare Möglichkeit der Verkündigung“, so Rüdiger Meussling.

In Eigenleistung legen sie die Wandmalereien Stück für Stück frei. Geschafft! Nun ist da noch Maria Magdalena, die Kirche in Plötzky, gleich neben ihrem Pfarrhaus. Das Gotteshaus hat ein Nässeproblem. Der Fußboden muss raus, der Putz ab. Wenn es auch vorher für keine renovierte Kirche ein Fest gibt – dieses Mal ja. Der Bischof ist da und predigt. Die Gemeinschaft kommt an, es folgen Kirchendorffeste. „Bei allen Renovieren haben uns Menschen vor Ort geholfen, das schweißt zusammen.“ Zur Wendezeit mischen sie sich kommunalpolitisch ein. Er erinnert an die Sandgrube, die erschlossen und dafür Wald gerodet werden sollte. Sie engagieren sich, rufen zur Demo auf. Das Vorhaben wird gestoppt.

Aufbruchstimmung in der Nachwendezeit: Sie halten bei einer Künstler-Tagung an der Tutzinger Akademie einen Gastvortrag zu ihren Kirchenprojekten. Ein Gast aus München ist begeistert und schenkt ihnen Dachsteine für die Kirche Plötzky. Rüdiger Meussling nutzt die Euphorie im Land, stellt Anträge auf Fördermittel und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Kirche Pretzien erhält eine neue Orgel und wird in die „Straße der Romanik“ aufgenommen. Er kann sich zufrieden zurücklehnen: „Seine“ Kirchen sind renoviert, die Friedhöfe in Ordnung.

Am 1. Januar 2000 geht Rüdiger Meussling in den Ruhestand. Auf dem Papier jedenfalls. Bis 2003 gibt es keinen Nachfolger. Er übernimmt gern. Die Kirche Plötzky erhält noch einen Gemeinderaum und zwei neue Glocken.

„Ich liebe mein Amt unheimlich. Vielleicht träume ich auch deshalb nachts manchmal davon“, erzählt er gestern schmunzeln. Dank für sein unermüdliches Engagement: 2010 erhält er das Bundes-Verdienstkreuz am Bande, 2011 den Rathauspreis der Stadt Schönebeck. Seit einem Jahr laden er und seine Frau zu „Plauderstunden“ ein, jedermann ist willkommen, egal, welcher Glaube. Und jetzt ist Zeit zum Bücherbinden. Seiner zweiten Leidenschaft.

Und was wünscht sich Rüdiger Meussling für sein neuntes Lebensjahrzehnt? „Etwas mehr Ruhe, Zeit für Garten und Radfahren und natürlich das Buchbinden.“ Sein größter Wunsch sei, dass seine Frau und er sich weiter haben und füreinander und die Familie da sind.