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Schicksalsschläge Neuanfang nach Einsamkeit

Ein Mann aus Schönebeck hat den Mut, über das Alleinsein - und den Weg heraus - zu sprechen.

Von Emily Engels 22.01.2019, 05:00

Schönebeck l Bonnie und Clyde. Wenn Dieter Fischer (Name von der Redaktion geändert) aus Schönebeck diese Namen hört, sitzt er ganz aufrecht. Sein sonst eher nachdenkliches Gesicht verändert sich dann schlagartig in ein heiteres. Für den 55-Jährigen sind Bonnie und Clyde viel mehr als zwei Wellensittiche. Mit ihnen verbringt er seine meiste Zeit. Denn der 55-Jährige ist allein.

Vor einigen Jahren nahm sein Leben eine tragische Wendung an. Es war ein Aufeinanderfolgen von zu vielen Schicksalsschlägen: eine Scheidung, der Tod der Eltern, das Wegbrechen sozialer Kontakte.

Nach dem Verlust der Eltern lebte er alleine in deren Wohnung. Er griff immer häufiger zum Alkohol. Die Sucht hinterließ bei dem Schönebecker dauerhafte neurologische und körperliche Schäden.

Dieter Fischer hatte Glück im Unglück. Denn über das Betreuungsgericht wurde damals eine gesetzliche Betreuung für ihn eingerichtet und eine Betreuerin des Betreuungsvereins Schönebeck bestellt. Dieter Fischer bekam eine gesetzliche Betreuerin, Nicole Heyn, die sich um die rechtlichen Angelegenheiten kümmert, während die Betreuungsassistentin Yvonne Müller ihn täglich für eine Stunde umsorgt. Dadurch wurden wiederum Hilfen wie die des Diakonievereins Burghofs initiiert.

„Manchmal mache ich mir Sorgen, dass Bonnie und Clyde aus Versehen vom Schrank fallen“, sagt Yvonne Müller und zwinkert ihm zu. Denn dann, so seine Betreuungsassistentin, versucht er, die Vögel näher an sich heranzuholen. „Warum setzt du dich nicht einfach näher an sie heran“, fragt sie ihn neckisch. Wenn die beiden miteinander sprechen, wirken sie sehr vertraut.

Seit einigen Monaten wohnt Dieter Fischer eigenständig in einer Wohnung des Diakonievereins Burghof. Dass er jetzt in den behindertengerechten Räumlichkeiten leben darf, hat er dem Einsatz des Betreuungsvereins zu verdanken.

„Ich bekam die Info, dass eine behindertengerechte Wohnung des Burghofes freigeworden war und wir setzten uns dafür ein, dass er dort einziehen darf“, so Nicole Heyn. Es klappte – und war für Dieter Fischer ein positiver Schritt. Denn Dieter Fischer sitzt im Rollstuhl. Die Wohnung seiner verstorbenen Eltern hat er aufgrund von Treppen jahrelang nicht verlassen können. Jetzt hat er in seiner hellen und freundlichen Wohnung sogar einen Balkon. „Mit 55 Jahren wurde ihm so nochmal ein kompletter Neuanfang möglich gemacht“, freut sich Nicole Heyn für ihn.

Seine Betreuungsassistentin Yvonne Müller wiederum war es, die nach Absprache mit Nicole Heyn die Wellensittiche Bonnie und Clyde in sein Leben holte. Nicole Heyn stimmte zu – und jetzt leisten die Ziervögel Dieter Fischer Tag und Nacht Gesellschaft.

Dank der Betreuung lebt Dieter Fischer wieder in einem geregelten Tagesrhythmus. Er steht um kurz nach 7 Uhr auf, wird von Pflegern besucht und gewaschen, bekommt Frühstück. Danach schaut er sich gerne Sendungen im Fernsehen am – am liebsten solche, in denen Tiere vorkommen. Denn Dieter Fischer ist sehr tierlieb, erzählt Yvonne Müller.

Und dann ist da diese eine Stunde am Tag, der Höhepunkt für Dieter Fischer. Denn dann kommt Yvonne Müller bei ihm vorbei. Sie macht es für ihn möglich, endlich wieder an den kleinen Dingen des Lebens teilzunehmen. Dinge, die für manch einen alltäglich sind, die für Dieter Fischer jedoch lange Zeit unmöglich schienen.

An anderen Tagen probiert Yvonne Müller, Dieter Fischer zum Malen zu bringen. Dazu, dass der 55-Jährige seine Hände benutzt, damit die wieder beweglicher und kräftiger werden. Und einmal pro Woche bringt Yvonne Müller dem Schönebecker mit dem Lebensmitteleinkauf einen Strauß Blumen vorbei. Was nie im Einkaufskorb liegt, sind Alkohol oder Zigaretten. Denn Rauchen und Trinken – das sind Sachen, die zu Dieter Fischers altem Leben gehören. Spricht man ihn darauf an, schüttelt er kräftig den Kopf und sagt mit bestimmter Stimme: „Nie wieder.“

Inzwischen steht stattdessen sogar ein bisschen Sport bei ihm auf dem Programm. Denn Dieter Fischer besucht einmal wöchentlich die Tagespflege des Burghofes. Da trifft er nicht nur auf andere Menschen, sondern nimmt auch an dem vielfältigen Programm teil. „Dieter Fischer ist noch jung. In seinem Alter gibt es noch viele Möglichkeiten der Förderung“, so die stellvertretende Tagespflege-Leiterin Simone Berlin. Sie ist stolz auf seine Entwicklung und findet: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.“

Dieter Fischer hat diese Chance genutzt. Er führt mit Hilfe des Burghofes und des Betreuungsvereins wieder ein selbstbestimmteres Leben. Eines mit einem strukturierten Alltag und fernab der Sucht. „Ich bin zufrieden“, sagt er und lacht.

Schwierig wird es für ihn immer dann, wenn Yvonne Müller Urlaub hat. Wenn seine Betreuungsassistentin ihm davon erzählt, dass sie für ein paar Wochen wegfährt, ihn statt ihr eine Vertretung betreuen wird, dann füllen sich Dieter Fischers Augen mit Tränen. Yvonne Müller klopft ihm auf die Schultern. „Schreib mir doch einen Brief, während ich weg bin“, spornt sie ihn an. Voller Zuversicht schaut sie ihn an und sagt: „Du machst das schon.“

Fühlen Sie sich einsam oder traurig? Bedrückt Sie etwas, Sie haben aber niemanden, mit dem Sie darüber sprechen können? Dann hilft beispielsweise die Telefonseelsorge Magdeburg unter der kostenlosen Rufnummer (0800) 111 00 111.