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Bücherfund „Zweimal Goethe“ aufgetaucht

In einem Groß Rosenburger Haushalt wurden zwei alte Bücher entdeckt, die aus der Leihbücherei des Barbyer Schlosses stammen.

Von Thomas Linßner 16.03.2017, 15:01

Barby l Beim Aufräumen ihrer Bücherschränke fand Charlotte Schöne aus Groß Rosenburg zwei Bücher, die sich vom Format (16 x 11 Zentimeter) und der Aufmachung von den anderen Exemplaren unterscheiden: Auf den Buchdeckeln befindet sich ein erhabenes Porträt des Dichters Goethe; auf dem Buchblock eine dreiseitige Goldschnittverzierung. Es handelt sich um eine Edition von „Goethes Werke“ des Hempelverlages in Berlin. Die Bücher erschienen vor dem Ersten Weltkrieg.

Was bis hier hin nicht sonderlich spannend klingt.

Doch bei genauerer Betrachtung wurde Charlotte Schöne über zwei Stempel in jedem Exemplar stutzig. Auf dem einen steht „Königl. Preuss. Seminarium zu Barby“, auf dem anderen „Staatl. Herzog-Heinrich-Schule“. Es sind Leih-exemplare jener Bibliothek, die sich im Schloss befand und erst dem Lehrerseminar, dann der Herzog-Heinrich-Schule diente. Seit 1945 existiert die Büchersammlung nicht mehr.

Rückblende: 1992 wurde in der „Volksstimme“ danach gefragt, ob sich jemand an das Schicksal der Herzog-Heinrich-Gruft im Schloss erinnern kann. Dort standen bis zum Mai 1945 kunstvolle Marmorsärge, in denen der Erbauer des Schlosses und seine Familie beigesetzt waren. Heute ist die Gruft leer; die Schützen der Herzog-Heinrich-Gilde haben ihrem Namenspatron eine Gedenktafel anbringen lassen.

Jahrzehntelang bewegte heimatgeschichtlich interessierte Barbyer die Frage: Was geschah mit den Marmorsärgen und Gebeinen? 1992 meldete sich Rudolf Krebs, der 1945 als 16-jähriger Schüler im Schloss war. Er berichtete davon, dass unmittelbar nach Einmarsch der amerikanischen Truppen das Schloss und seine Nebengebäude Auffanglager für „Ostarbeiter“ wurden. Dort blieben sie bis zur Rückkehr in ihre Heimat. Man kann davon ausgehen, dass die Polen, Ukrainer und Belgier in ihrer Wut die Inneneinrichtung des Schlosses und ebenso die Gruft zerstörten.

Nach Räumung des Komplexes bot sich den Schülern, die zu Aufräumarbeiten heran gezogen wurden, ein fürchterliches Bild. Die Marmorsärge waren zerschlagen, Gebeine lagen verstreut in der Gruft herum.

„Vieles war verwüstet, Möbel zerschlagen, die kostbare Bibliothek war zum Fenster heraus geworfen worden“, erinnerte sich Rudolf Krebs. Darunter befanden sich wertvolle Folianten und wissenschaftliche Bücher aus der Herrnhuterzeit. Es ist bekannt, dass man die Bücher auf Karren lud, sie zu einem ehemaligen Kiesloch am Colphuser Damm transportierte und abkippte ...

An dieser Stelle bringen wir den mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen Rudolf Schmidt ins Spiel, der 2001 zum Thema der verschollenen Bibliotheksbestände etwas zu berichten hatte. Als Zwölfjähriger „räuberte“ er mit seinen Freunden überall herum. Das „Besorgen“ von Lebensmitteln oder Kaninchenfutter hatte oberste Priorität. Magische Anziehungskraft besaß ein abgeschossenes deutsches Jagdflugzeug, dessen Wrack zwischen Bahnstrecke und Colphuser Damm lag. Dort in der Nähe befand sich auch „Kniepmanns Loch“, das spätere Generationen als „Rattenteich“ kennen. Es war bis Ende der 1960er Jahre Müllkippe, wurde dann verfüllt.

„Wir haben beobachtet, wie die Bücher mit Schnapp-Karren des Rittergutes zu ‚Kniepmanns Loch‘ gefahren wurden. Dass muss zur Zeit der englischen Besatzung im Juni ‘45 gewesen sein“, berichtete Rudolf Schmidt 2001. Beim Kaninchenfuttersuchen bot sich dem Jungen ein schlimmes Bild. Neben dem Bücherberg lagen aufgedunsene, tote Kühe. Auch Handgranaten, Maschinengewehr-Gurte und Panzerfäuste seien dort in den letzten Kriegstagen entsorgt worden. Der Zwölfjährige sammelte drei Bücher ein, für die er sich besonders interessierte. Es handelte sich um zwei Geschichtsbände und ein Naturkundebuch. Und er war nicht der einzige Literatur-Interessent. Buchhändler und Leihbibliothekar Ernst Jensch, der in der Schleiermacherstraße einen Laden hatte, soll große Mengen eingesammelt und anschließend verkauft oder verliehen haben. Auf diese Weise erfüllten die Bücher wenigstens noch einen guten Zweck.

Die von Charlotte Schöne entdeckten Goethe-Bände stammen aus dem Besitz ihres Bruders Erich Müller (Jahrgang 1930). Der Rosenburger besuchte die Oberschule (im Edelhof), legte dort Ende der 1940er Jahre sein Abitur ab. Es war die Nachfolge-Einrichtung der Herzog-Heinrich-Schule. Täglich marschierte Erich von Rosenburg nach Barby und zurück. Damals pendelte die Klein Rosenburger Gierfähre noch. Es ist möglich, dass er die Bände bei dem zuvor erwähnten Buchhändler Jensch kaufte.