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Dialyse Schützenhilfe für die Nieren

Wenn die Nieren nicht mehr richtig funktionieren, hilft früher oder später nur die Dialyse.

Von Heike Liensdorf 09.08.2019, 11:09

Schönebeck l Er sitzt mit Atemnot bei seinem Hausarzt. Sicherlich ist die leichte Bronchitis, die er vor drei Wochen hatte, nicht ganz ausgeheilt. Der Arzt misst seinen Blutdruck. Der ist extrem hoch. Vielleicht ein versteckter Herzinfarkt. Medikamente schlagen nicht an. Er kommt sofort ins Krankenhaus. Die Blutentnahme zeigt, dass mit seinen Nieren etwas nicht in Ordnung ist. Seine Kreatininwerte sind hoch. Zu hoch. Dann die Nachricht, dass seine Nieren nur noch 15 Prozent Leistung bringen und er an die Dialyse muss.

Am 3. April 2018 überschlagen sich für Dirk Stitzing die Ereignisse. Von jetzt auf gleich ändert sich sein Leben. „Als ich das Wort Dialyse gehört habe, sind mir so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Vor allem: Wie soll es weitergehen“, erinnert sich der 51-jährige Schönebecker noch an den Tag, als sein Leben aus den Fugen zu raten schien. Mittlerweile hat sich alles wieder gefunden, er strahlt Zuversicht aus.

An der Uniklinik Magdeburg lässt er sich gleich nach der Diagnose in der Nephrologie untersuchen. Dieses Teilgebiet der Inneren Medizin beschäftigt sich mit Nieren- und Hochdruck-Erkrankungen. Dort ereilt ihn gleich die nächste Hiobsbotschaft: Die Nieren funktionieren zu diesem Zeitpunkt nur noch zu sechs Prozent und fangen an zu schrumpfen.

Eine erhebliche Belastung für den Körper, wenn man bedenkt, dass gesunde Nieren 24 Stunden am Tag arbeiten, Abfallprodukte und überschüssiges Wasser aus dem Körper entfernen und über den Urin ausscheiden. Sind sie krank, können sie nicht mehr genug arbeiten, um den Körper gesund zu halten. Ist dies bekannt, kann gemeinsam mit einem Arzt das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt, nicht aber geheilt werden.

In der Uniklinik wird ihm aufgezeigt, was möglich ist: Zum einen die Peritonealdialyse. Dabei wird das Bauchfell (Peritoneum) als Filtermembran genutzt, um das Blut zu reinigen und überschüssiges Körperwasser zu entfernen. Zum anderen die Hämodialyse, auch Blutwäsche genannt. Dabei filtert und reinigt ein Gerät mit einer Membran das Blut außerhalb des Körpers. Beide Methoden sind zeitaufwändig und kräftezehrend. Oder eine Nierentransplantation. Doch die Warteliste ist lang.

Auch Dirk Stitzing wartet. Er weiß, bei seiner seltenen Blutgruppe B positiv kann das noch dauern. Bis zur neuen Niere entscheidet er sich für eine Bauchfelldialyse. „Ich durfte noch meinen 50. Geburtstag daheim feiern. Dann bin ich ins Krankenhaus und habe bei einer Operation einen Zugang in Form eines Dauer-Katheters gelegt bekommen.“ Durch den dünnen Plastikschlauch in der Bauchdecke wird die Dialysierflüssigkeit in die in sich abgeschlossene Bauchfellhöhle geleitet. Die Flüssigkeit bleibt mehrere Stunden dort, bis die Gifte übergetreten sind, wird dann entfernt und durch eine frische Lösung ersetzt. Regelmäßig untersuchen und betreuen lässt er sich in der Dialyse-Praxis von Günter Hofmann und Heidrun Deicke in Schönebeck.

Das Prozedere ist für den Schönebecker mittlerweile Alltag. „Man muss positiv denken. Das Leben geht weiter – und das ist die Hauptsache.“ Natürlich merke er die körperliche Einschränkung. Wenn die Nieren nicht von alleine richtig funktionieren, schlägt sich das aufs Allgemeinwohl nieder. Zum Beispiel kann er nicht mehr schwer heben. Die Energie fehlt. Die muss er sich Schritt für Schritt zurückerobern. „Klar kann ich mich auch in die Ecke setzen und jammern, wie schlecht es mir geht. Aber wie soll ich dann weiterkommen, wie soll es mir dann besser gehen? Mit Rückschlägen muss man rechnen – und klarkommen“, gibt Dirk Stitzing offen zu, zumal bis heute nicht genau klar ist, was der Grund für seine Nierenerkrankung ist.

Der 51-Jährige holt sich seine Lebensqualität nach und nach, so weit es geht, zurück. Er kann seinem Hobby, dem Bootfahren, wieder nachgehen. Er kann verreisen, denn die Materialfirma biete eine Rundumversorgung und liefert alles an den Urlaubsort. „Was soll‘s: Entweder arrangiere ich mich damit oder ich gebe mich auf. Ich habe mich fürs Arrangieren entschieden“, sagt er und ihm ist anzumerken, dass er die Einschränkungen gern in Kauf nimmt, um Leben zu können.

Dirk Stitzing wartet darauf – Steffen Herrmann hat sie schon: eine neue Niere. Knapp zehn Jahre hat es gedauert. In dieser Zeit ist er drei Mal die Woche fünf Stunden in der Praxis Hofmann/Deicke zur Dialyse an der Maschine gewesen. Obgleich seine Oma, Tante und Mutter an Zysten-Nieren litten, verdrängt er jahrelang die erbliche Vorlast, lässt sich nicht untersuchen. „Ich wusste ja, dass man da nichts machen kann. Die Zysten drücken auf die Organe. Haben sie das Nierengewebe durchdrungen, können diese nicht mehr arbeiten. Dann bleibt nur die Dialyse. Das kannte ich ja alles aus der Familie. Und ich wusste auch, dass Medikamente das Wachstum nicht verhindern, nur verlangsamen können“, gibt der 50-Jährige zu. „Für mich war das damals alles weit weg. Ich dachte, ich muss erst an die Dialyse, wenn ich älter bin.“

Vor gut einem Jahrzehnt zwingt sein Körper ihn in die Knie. Der Schönebecker ist schlapp, müde, hat oft blaue Lippen. Sein Blutdruck schnellt in die Höhe. Die Ärzte schlagen Alarm. Vor allem, als sie von den Zysten-Nieren in der Familie hören – und diese auch bei ihm diagnostizieren. Dann geht alles ganz schnell. Am 13. September 2009 erhält Steffen Herrmann einen Shunt. Seitdem ist er Dialysepatient.

Der Shunt ist eine chirurgisch geschaffene Verbindung zwischen einer Arterie und einer Vene. Über diesen Zugang wird das Blut durch ein steriles Schlauchsystem geleitet, das mit dem Dialysator, der künstlichen Niere, verbunden ist. Dabei werden überschüssiges Körperwasser und Abfallstoffe ausgeleitet, das gereinigte Blut gelangt wieder in den Körper.

Steffen Herrmann erlebt gute und schlechte Tage. „Ich bin der zweitlängste Patient an der Dialyse gewesen. Neuneinhalb Jahre. Kaum einer war länger. Entweder haben sie eine neue Niere bekommen – oder sind gestorben. Da gab es viele Momente, in denen auch ich über den Tod nachgedacht habe ...“

Seit er dialysiert wird, steht er auch auf der Warteliste für eine Nierentransplantation. Am 9. Februar 2019 kommt ein Anruf aus dem Transplantationszentrum der Charité Berlin, in dem er registriert ist. „Ein Oberarzt hat mir gesagt, dass sie ein Organ haben. Der Verstorbene sei relativ jung, könnte mein Sohn sein – mehr weiß ich bis heute nicht“, erinnert er sich. Dann geht wieder alles ganz schnell – wie vor zehn Jahren bei der Diagnose. Ein Bekannter bringt ihn nach Berlin. „Man fährt mit einer Riesenhoffnung hin, weiß aber, dass der Körper das neue Organ auch abstoßen kann. Ich war mir in dem Moment unsicher, ob ich mich freuen kann oder lieber vorsichtig sein sollte.“ Vor Ort folgen zig Untersuchungen. Alles geht schnell, routiniert. Zwei Stunden muss er noch einmal an die Dialyse, da sein Kaliumwert zu hoch ist. Er senkt sich wie geplant. Um 2.30 Uhr geht es für den Schönebecker in den Operationssaal.

Sechs Stunden später wird er auf der Intensivstation wach. Er blickt in zufriedene Gesichter. Seine neue Niere produziert erstes Urin. „Für mich hätte es mehr sein können, aber die Ärzte fanden es gut“, sagt er. Heute kann er über seine Ungeduld schmunzeln. Zum damaligen Zeitpunkt hatte er aber Angst, dass nichts so funktioniert, wie es funktionieren soll. Doch der Erfolg stellt sich ein, die Niere fühlt sich Tag für Tag wohler. „Die Ärzte haben mich ja auch immer beruhigt: Die Niere ist umgezogen und muss sich erst an ihr neues Haus gewöhnen.“ Und so ist es auch. Seinen 50. Geburtstag begeht er in der Charité. Im kommenden Jahr will er die Feier nachholen. „Ich werde am 9. Februar feiern – dem Tag der Transplantation – und am 19. Februar, dem regulären Geburtstag, gar nicht da sein“, plant er. Seinen zweiten Geburtstag, den 9. Februar, will er sich als römische Zahlen auf die Brust tätowieren lassen. Einen Termin hat er schon.

Seine Problemnieren sind weiterhin im Körper. Die neuen auch – vorne links im Bauchraum, per gelegten Harnleiter angeschlossen an die Blase. Zur Dialyse braucht er nicht mehr. Doch die Transplantation ist nicht ohne. Er muss sich regelmäßig untersuchen lassen, ist erwerbsunfähig. Sein Immunsystem ist geschwächt – durch die jahrelange Belastung der Dialyse, durch das neue Organ, durch die unzähligen Medikamente am Tag, die er nehmen muss, damit der Körper die eigentlich fremde Niere akzeptiert. Dennoch: „Das ist ein komplett neues Lebensgefühl. Das hätte ich nie gedacht.“

Geht es um das Thema Organspende, steht für Steffen Herrmann jetzt einmal mehr fest, dass er für die Widerspruchslösung ist: Wer zu Lebzeiten nicht widerspricht, ist nach dem Ableben automatisch Organspender.

Auch wenn er nicht mehr zur Blutwäsche muss, die Dialyse-Praxis besucht er immer noch. Zur Kontrolle und Blutabnahme. Und auf einen Schwatz. „Das ist dort wie eine große Familie, ein herzliches Verhältnis“, schwärmt er.

Das werden Dr. Günter Hofmann, Diplommedizinerin Heidrun Deicke und ihr Team gern lesen. Denn das möchten sie auch bei all den Strapazen, die eine Dialyse – in der Regel drei Mal die Woche für je vier bis fünf Stunden – verbunden mit dem Warten auf ein Spenderorgan mit sich bringt. Die beiden Nephrologen und Dialyse-Ärzte haben seit 1995 ihre Praxis, anfangs im, nun unweit des Schönebecker Klinikums. Zu DDR-Zeiten mussten die Betroffenen nach Quedlinburg oder Halberstadt fahren. Haben sie einst mit zehn Patienten begonnen, sind es derzeit rund 70, die zur chronischen Dialyse-Behandlung kommen, dazu Akut-, Reha- und Gastpatienten. Von ganz jung bis hochbetagt. (Offizielle Statistiken zu Dialysezahlen liegen für Deutschland nicht vor.)

„Früher sind die Patienten nur bis zu ihrem 60. Lebensjahr an die Dialyse gekommen. Heute gibt es diese Altersbegrenzung nicht mehr“, sagt Günter Hofmann. Und da auch die medizinischen Eingriffe mehr geworden seien und auch erfolgreicher, steige die Lebenserwartung – und damit auch die Zahl der Dialysepatienten. Die Gründe können vielfältig sein, Risikofaktoren sind Diabetes, Bluthochdruck, Adipositas (Fettleibigkeit). Oder auch eine familiäre Vorbelastung. „Wir haben schon ganze Familien hier gehabt“, sagt Günter Hofmann. „So lange wie möglich versuchen wir aber, die Betroffenen medikamentös zu behandeln, damit sie nicht an die Dialyse müssen“, betont Heidrun Deicke. Da seien sie auf die Zusammenarbeit mit dem Hausarzt angewiesen, der den Patienten bei auffälligen Werten überweist.

Die beiden Internisten, die sich auf dem Gebiet der Nephrologie spezialisiert haben, lieben ihren Beruf. Das ist ihnen anzumerken. „Wenn sie tagtäglich mit chronisch Kranken zu tun haben, lernen Sie, was wirkliche Probleme sind. Wir können helfen. Wenn die Blutwäsche anschlägt, gibt sie ein Stück Lebensqualität zurück“, sagt Günter Hofmann. Seine Kollegin nickt. Wer geht schon gern eine Abhängigkeit ein? Die Dialysepatienten müssen es, „denn dagegen steht in letzter Konsequenz der Tod“, so Heidrun Deicke.

Im Idealfall erhalten sie eine neue Niere – und damit wieder ihre Unabhängigkeit. Doch die Warteliste ist lang, die Spendebereitschaft gering. „So schlimm wie der Tod eines Menschen ist, spendet er seine Organe, kann er das Leben anderer Menschen wieder lebenswert machen“, gibt Günter Hofmann zu bedenken.