Ensemble Theatrum Wirklich alles Goethe

Das Ensemble Theatrum auf Schloss Hohenerxleben hat „Iphigenie“ von Johann Wolfgang von Goethe einstudiert.

Von Ulrich Meinhard 17.05.2016, 19:38

Hohenerxleben l Den Bann durchbrechen - und wenn er Schicksal hieße. Nichts Geringeres wagt Johann Wolfgang von Goethe mit seinem Bühnenstück „Iphigenie auf Tauris“, das 1779 in der Prosafassung uraufgeführt wurde - mit Goethe als Orest. Das Ensemble Theatrum Hohenerxleben hat den Stoff auf die eigene kleine Bühne gebracht - und einem großen, edlen Gedanken zu aktueller Präsenz verholfen. Vor dem Zuschauer entfaltet sich die Idee vom Höheren, vom wohl Göttlichen, dem der Mensch sich annehmen kann, wenn er denn will und so beseelt heilt und versöhnt, was als nicht mehr heilbar scheint.

Zum Stück: Goethes Iphigenie unterscheidet sich - und wenn man so will: wohltuend - von vielen anderen Dramen anderer Autoren, die ihre Helden nur immer tiefer hinein führen in ein sich verstrickendes Knäuel aus Wahnsinn, Untergang und böser Tat, die stets und offensichtlich unvermeidbar eine neue böse Tat gebiert. Hier aber wird das Unausweichliche, für den unbeteiligten Zuschauer erschaudernd Ergötzliche durchbrochen von der Hoffnung, der, wenn auch zuweilen zweifelnden, Zuversicht auf das Edle, Hilfreiche und Gute.

 

Lässt sich mit Unverstelltheit, Offenheit und Vertrauen der Lauf der Dinge ändern, ja Politik machen? In der schönen Dichtung Goethes gelingt es, weil der König der Barbaren unter dem Ballast und der Bürde menschenverachtender Tradition zugänglich ist für die Reinheit der Seele, die ihm in Gestalt der Iphigenie gegenwärtig wird. Doch hätte gerade sie, die reine Seele, wie es im Stück Passagen zuvor noch geargwöhnt wird, die Helden der Geschichte auch zugrunde richten können - Oder etwa nicht?

Was also wirkt? Ist es das Gebet Iphigenies an die Götter: „Rettet mich! Und rettet euer Bild in meiner Seele!“ Ist es die wie eine ausgleichende Kraft über dem Geschehenen schwebende gütige Weisheit der Königstochter? Ist es das Verblassen von Wut und Rachegedanken angesichts einer sich durch unbeirrtes Intervenieren eröffnenden Schau auf das von menschlichen Zuweisungen befreite, tatsächlich Göttliche? Muss nicht doch auf Erden der Stärkere sich durchsetzen? Und mit dem Schwert entscheiden? Wie nebenbei beantwortet die Heldin diese Frage: „Dieses blutigen Beweises bedarf es nicht, o König.“

Der anfangs wie im Wahnsinn gefangene, bis ins Mark verzweifelte Orest, wird in ganzer Hinsicht geheilt, allein durch die Hand der Schwester und muss eingestehen: „Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm, wird durch die Wahrheit dieser reinen Seele beschämt und reines, kindliches Vertrauen zu einem edlen Manne wird belohnt.“ Eine schöne Mär? Oder der unabdingbare Baustein für eine neue, bessere Welt?

 

Die Frage muss sich jeder selbst beantworten. Und ebenso die Frage, die im Bühnenstück auftaucht und die sich das Ensemble mit dieser Inszenierung und vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme in der Welt ausdrücklich stellt: „Kann uns zum Vaterland die Fremde werden.“ Der Frage sei allenfalls eine weitere zugestellt: Wer ist bereit, mit ehrlichem Herzen dem Fremden Heimat zu schenken?

Die Entscheidung des alternden, von Thronräubern bedrohten, ohne Nachkommen lebenden Königs, die Gefangenen samt der von ihm geliebten Priesterin ziehen zu lassen, ist die eigentlich edle Tat der Handlung, die den irdischen Schmerz in Kauf nimmt in der Zuversicht auf das ungetrübte, ewige Sein der Seele, das in der Person Iphigenies durchzuschimmern scheint. An dieser Bruchstelle formt sich Schicksal neu. Der Fluch, der auf der Familie lastete, ist gebrochen.

Zur Inszenierung: Mit den Schauspielern Friederike und Hubertus von Krosigk sowie Thomas Zieler haben gleich drei Personen bei der Hohenerxlebener „Iphigenie“ Regie geführt. Der Spruch vom Brei, den viele Köche nur verderben können, trifft hier ganz klar nicht zu. Von der ersten Minute an wird eine Spannung erzeugt, die sich für knapp eineinhalb Stunden durchzieht. Das liegt nicht nur am Kürzen des Goeth‘schen Originals um knapp die Hälfte, das funktioniert dank der überzeugenden Schauspielkunst der Darsteller, der eingebauten musikalischen Stücke, der auf Stimmungslagen abgestimmten Beleuchtung der Bühne und einiger anderer dramaturgischer Kniffe: sparsam und wirkungsvoll zugleich. Und nicht zu vergessen dank eines ansprechenden, von Nikoline Kruse geschaffenen Bühnenbildes, das über Lichteffekte interaktiv Teil der Handlung wird.

Hubertus von Krosigk läuft als verzweifelter Orest zu Hochform auf, er gibt der von ihm verkörperten Figur höchst glaubwürdig Gestalt und Stimme. Friederike von Krosigk schafft das Kunststück, in ihrer Rolle die Leichtigkeit des Geistes einer klugen und (spätestens hier hört die Selbstverständlichkeit auf) wahrhaft ehrlichen Frau zu vereinen mit der Schwere des eigenen Schicksals und der daraus erwachsenen tiefen Zweifel. Ihr Lächeln schwebt wie der Ausdruck einer höheren Sphäre über dem Imponiergehabe der Männer. Deren Machtgelüsten ist sie wie entrückt. Mit Thomas Zieler spielt ein Mann die Rolle des Königs Thoas, der 14 Jahre lang nicht mehr auf den Bühnenbrettern stand. Die Rolle passt zu ihm und er füllt sie glaubwürdig aus. Die Vierte im Bunde ist Lucia Keller. Die in Griechenland geborene junge Frau ist die Neuentdeckung in Hohenerxleben. Sie übernimmt die Rolle des Pylades und überzeugt vor allem stimmlich und musikalisch.

Nach der letzten Szene wartet das Publikum lange mit Applaus, um ihn dann um so spendabler zu schenken. Stehend. Die Darsteller müssen sechs Mal zurück auf die Bühne. Am Tag nach der Premiere sagt Friederike von Krosigk: „Wir haben große Anerkennung als starkes, gleichwertiges Team erfahren und große Freude über die neuen Kollegen und die Kraft und Ausdrucksstärke, die beide mitbringen.“ Zuschauer hatten ihr gesagt, es klinge vieles so modern und aktuell, da sei doch sicher umgeschrieben worden. Friederike von Krosigk versichert: „Nein, es ist wirklich alles Goethe!“

(Nächste Aufführung: Sonntag 12. Juni, 17 Uhr, Anmeldung unter Telefon 03925 / 98 90 20)