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Forschungsprojekt Wie starb Heidi Schapitz?

Heidi Schapitz aus Schönebeck wurde an der innerdeutschen Grenze erschossen. Historiker arbeiten den Fall nun auf.

Von Kathleen Radunsky-Neumann 25.11.2016, 21:08

Schönebeck l Es ist eine traurige Geschichte, die sofort jedes Herz berührt. Es ist der 7. April 1972. Heidi Schapitz, ihr Verlobter Siegfried Krahl (22) und Arbeitskollege Gunnar Jachmingen wollen in Oebisfelde über die Mauer in den Westen flüchten. Als sich die Gruppe in der Dunkelheit am Südrand von Oebisfelde der Grenze nähert, löst einer von ihnen die Signalanlage vor dem Grenzzaun aus. Unmittelbar danach schießen Grenzposten von einem Grenzturm eine rote Leuchtkugel in den Himmel. Die drei Flüchtlinge rennen zum etwa drei Meter hohen Grenzzaun. Dann eröffnen mehrere Grenzsoldaten das Feuer. Während sich Siegfried Krahl über die Mauer retten kann, bezahlen Heidi Schapitz und Gunnar Jachmingen ihren Fluchtversuch mit dem Leben.

„Heidi Schapitz hat einen tragischen Tod gefunden“, sagt Projektleiter Dr. Jochen Staadt. Er gehört zum Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, der 1992 gegründet wurde und die Geschichte der DDR untersucht. Seit 2012 recherchiert dieser Verbund zudem die Schicksale von Männern, Frauen und Kindern, die an der innerdeutschen Grenze zwischen Lübecker Bucht und der damaligen Tschechoslowakei ums Leben gekommen sind. Im Rahmen der Recherchen sind die 14 Projektmitarbeiter auch auf die Geschichte von Heidi Schapitz gestoßen, deren trauriges Ende sich in Oebisfelde fand.

Die drei Flüchtlinge waren zum etwa drei Meter hohen Grenzzaun gelangt. Hier gelang es Siegfried Krahl mithilfe einer Zange, die er als Steighilfe in den Metallgitterzaun steckte, den Zaun zu erklimmen. Heidi Schapitz und Gunnar Jachmingen hatten ihm dabei von unten geholfen. „In dem Moment, als Siegfried Krahl die Zaunkrone erreichte, erfasste ihn der Scheinwerfer eines nahe gelegenen Postenturms“, berichtet Dr. Jochen Staadt. Von dort aus soll der Grenzsoldat Wilfried M. das Feuer eröffnet haben. Siegfried Krahl sei darauf sofort vom Zaun heruntergesprungen und auf der westlichen Seite in der Dunkelheit liegen geblieben. „Unterdessen begannen zwei in der Nähe eingesetzte Grenzstreifen ebenfalls auf die Flüchtlinge zu schießen“, erzählt der Historiker weiter. In der späteren Untersuchung des Vorfalls durch den Staatssicherheitsdienst ist von insgesamt 37 Schüssen die Rede.

„Heidi Schapitz hatte gerade den Rand des Zaunes erklettert, als sie getroffen wurde und mit einem leisen Ausruf wieder hinabstürzte“, zitiert Dr. Jochen Staadt weiter aus den Akten. Gunnar Jachmingen soll die junge Frau unter Beschuss durch die Grenzposten in den Sperrgraben gezogen und dann Siegfried Krahl zugerufen haben, er solle „abhauen“, weil Heidi verletzt sei und sich nicht mehr bewegen könne. Der Verlobte soll sich daraufhin nahe des Gutes Büstedt über ein Wehr der Aller in Sicherheit gebracht haben.

„Die herbeigeeilten DDR-Grenzer fanden Gunnar Jachmingen und die durch einen Bauchschuss schwer verletzte Heidi Schapitz im Sperrgraben vor dem Grenzzaun“, sagt der Forscher. Ein Sanitäter der Grenztruppen habe die Schönebeckerin notdürftig verbunden, bevor sie ein Sanitätswagen zum Vertragsarzt der Grenztruppen gebracht habe. Auf dem Weitertransport zum Stab des Grenzbataillons Gardelegen erlag Heidi Schapitz gegen 23.15 Uhr ihren Verletzungen. Bei der Obduktion in Magdeburg am 10. April 1972 stellte sich heraus, dass Heidi Schapitz schwanger war.

Nachzulesen ist das auf der Internetseite des Forschungsverbundes. Hier steht auch, dass in den Tagen nach dem Tod von Heidi Schapitz mit etwa 30 Männern aus der 7. Grenzkompanie Einzel- und Gruppengespräche geführt worden.

Oberstleutnant Müller von der Magdeburger MfS-Bezirksverwaltung meldete seinem Minister Mielke nach Berlin: „Auswertung der vorbildlichen Handlungen in einem Kompanieappell am 8.4.1972 und Würdigung der gezeigten Leistungen der Angehörigen der Grenzkompanie.“ Hans-Jürgen N., der den Unterlagen zufolge 20 Schüsse auf die Flüchtlinge abgegeben hatte, arbeitete unter dem Decknamen „Hans Eppert“ als „Inoffizieller Mitarbeiter“ für den Staatssicherheitsdienst. Er nahm sich am 5. Oktober 1990 das Leben. Und gab es ansonsten Konsequenzen? „Das Strafverfahren gegen die übrigen Beteiligten wurde eingestellt, da ein konkreter Tatnachweis nicht mehr möglich war.“

Das Schicksal der Schönebeckerin Heidi Schapitz ist nicht das einzige. Zahlreiche Menschen mussten bei ihrem Fluchtversuch ihr Leben lassen. „Eine abschließende Zahlenangabe zu den Todesopfern ist noch nicht möglich“, sagt Dr. Jochen Staadt. Doch die zentrale staatsanwaltliche Ermittlungsgruppe haben in den 1990er Jahren insgesamt 270 nachweisbare Todesfälle an der innerdeutschen Grenze ermittelt. Davon, so der Historiker, entfallen 237 auf Schusswaffen-Gebrauch oder sonstige Gewaltakte durch Angehörige der DDR-Grenztruppen und 33 auf Detonationen von Erd- und Splitterminen.

Zu ihnen hat das Team um Dr. Jochen Staadt bereits recherchiert. Die Quellenlage ist sehr unterschiedlich. Neben diversen Archiven greifen die Forscher auf historische Überlieferungen aus der DDR und der BRD zurück – von Grenzpolizei und -truppen, Militärstaatsanwaltschaft, Volkspolizei, Staatssicherheit und Justiz genauso wie von Zoll, Bayerischer Grenzpolizei, Polizei und vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Hinzu kommen Überlieferungen aus den Ermittlungsunterlagen der 1990er Jahre und Angaben örtlicher Einrichtungen sowie von Zeitzeugen.

Veröffentlicht werden die Ergebnisse nicht ausschließlich im Internet. 2017 soll ein biografisches Handbuch zu den Opfern des DDR-Grenzregimes im Handel erscheinen. „Es soll auch in der politischen Bildung Verwendung finden“, sagt der Projektleiter, der mit seinem Team bereits ein solches Buch zu den Todesopfern an der Berliner Mauer herausgebracht hat. Das Forschungsprojekt wird von der Staatsministerin für Kultur und Medien sowie von den Bundesländern Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Für das zweite Handbuch brauchen die Forscher noch Unterstützung. So liegen nicht zu allen Opfern Fotos vor. „Und vielleicht gibt es noch Zeitzeugen, die sie gekannt haben“, stellt Dr. Jochen Staadt eine weitere Frage in den Raum. Können Sie sich an Heidi Schapitz erinnern? Sind Sie mit ihr eventuell in eine Klasse gegangen? Oder kennen Sie ihre Eltern? Der Vater von Heidi Schapitz hieß Willi Walter Schapitz (Jahrgang 1909) und war Arbeiter im VEB Traktorenwerk Schönebeck. Ihre Mutter Margarete (Jahrgang 1920) war Krankenschwester. Und ihre kleine Schwester heißt Elke Schapitz, geboren am 7. September 1965.

Mit Fotos und Erinnerungen können Sie sich gern an die Redaktion der Volksstimme wenden, entweder per E-Mail an redaktion.schoenebeck@volksstimme.de oder telefonisch unter (0 39 28) 48 68 25.