Geheimnisvoll Ein Brief aus China?

Ein bemerkenswerter Brief mit Ostergrüßen landet im Pressebüro in Barby.

Von Thomas Linßner 29.04.2020, 01:01

Barby l Die Adresse auf dem Kuvert ist das Einzige, was ich lesen kann. Wenn auch „Thomas“ zu „TUÕ Mà SΓ avanciert. Schließlich musste ja die Post damit klar kommen. Was aber auf dem 16 mal 18 Zentimeter großen karierten Blatt steht, der im Brief steckt, ist so unklar wie Sternegucken bei Nebel.

Eines hat der Briefschreiber jedenfalls erreicht: Ich bin neugierig. Aber wie!

Wann bekommt man schon mal einen Brief aus China?! Doch halt: Der Poststempel sagt was anderes aus. „50 Jahre Seilbahnen Thale“. Damit sind sechs heitere Briefmarkenkameraden der Sesamstraße entwertet.

Thale, hmmm ... Dort habe ich einen ehemaligen Kollegen, der bei der Seilbahn arbeitet und dem ich derartige Streiche zutraue. Doch am Telefon schwört er Stein und Bein, mit der Sache nichts zu tun zu haben. Zuvor hatte ich eine leitende Postfrau gefragt, ob der regionalisierte Stempel auf den Ort des Briefkasteneinwurfs hinweist. Sie meinte ja ... Wie sich später herausstellen soll, stimmt das nicht.

Zweiter Verdächtiger ist mein Freund Dirk, der mir vor Jahren mal Geburtstagsgrüße auf Arabisch zukommen ließ. Er war gerade im Tunesien-Urlaub. „Ich frage mal jemanden in der Kammerphilharmonie“, verspricht er. Dort musizieren ja auch Asiaten.

Aber wozu habe ich aktuelle Kollegen, die weltgewandt sind?! So einer ist Olaf Koch, bei dem schon wieder das Fernweh anklopft, kaum dass er von einer Reise in fremde Länder zurück ist. Für ihn steht fest: Die Schrift ist weder japanisch noch vietnamesisch, sondern chinesisch. Olaf besinnt sich auf Miriam Pauke, die in der Redaktion Schönebeck die Anzeigen bearbeitet. Sie hatte mal am Rande erwähnt, dass ihre Berliner Schwester Nicole zwei Jahre in China tätig war. Erst als Studentin, dann als Lehrerin für Deutsch. Und immer wenn von fernen Ländern die Rede ist, spitzt Olaf die Ohr-en ...

Na, Bingo, denke ich. Das wird! Um ganz sicher zu gehen, lässt Miriams Schwester Nicole den mittlerweile digitalisierten Brief einem Bekannten im Reich der Mitte zukommen. Und zwar per WhatsApp. Der stellt schnell fest, dass die „Buchstaben“ von keinem Chinesen geschrieben, sondern von einem interessierten Laien „nachgemacht“ wurden. Zudem sei es kein modernes Chinesisch, sondern ein traditionelles. Viel könne er nicht lesen, aber „Guten Tag“, so etwas wie „frohe Ostern“ und ... „Eberhard“ oder „Ebert“. Der Rest sei „etwas komisch“, weil die Striche nicht ganz korrekt gesetzt wurden.

Doch mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Ebert!

Klar: Burghard Ebert wohnt in Zuchau und hat eine Beziehung zu China. Und zwar durch seinen Vater. Um das zu erklären, sei weiter ausgeholt.

Der Zuchauer zeigte mir vor Jahren mal ein chinesisches Fachbuch über Päonien. So heißen die wunderbar blühenden Pfingstrosen, die bald wieder ihre Pracht verbreiten werden. Zwischen allerlei wundersamen chinesischen Buchstaben mischte sich im feinsten Latein „Zuchau, Ebert“ zwischen die Zeilen. Soll heißen: Die Qualität der Zuchauer Ebert-Päonien hatte sich bis ins ferne Mutterland dieser schönen Blüten herum gesprochen.

Kaum eine andere Gartenpflanze hat eine so lange, weit zurück reichende Geschichte wie die Päonie, die in China seit über 4000 Jahren kultiviert wird. Es gibt Hunderte von Kulturformen, von denen in Mitteleuropa bisher nur wenige in den Gärten zu finden sind.

Dass sie in diesem Zipfel des Salzlandkreises seit Jahrzehnten blühen und gedeihen, ist Burghards Vater Heinrich Ebert (1916 bis 2005) zu verdanken. Der gebürtige Altmärker wollte Medizin studieren, was der Krieg verhinderte. In Zuchau „familiär hängen geblieben“, gründete er nach 1945 eine Landwirtschaft auf eigener Scholle in der Damaschkestraße.

Neben notwendiger Volksversorgung widmete sich Heinrich Ebert aber seinem Steckenpferd: Er begann um 1950 Päonien zu züchten, deren Samen er von einem Chinesen in Westberlin gekauft hatte. Eine bemerkenswerte Tatsache, da zur damaligen Zeit Lebensmittelkarten ungleich mehr gefragt waren, als exotische Blumen. (Heute kann man die wunderbaren Blüten im Groß Rosenburger Päonien-Schaugarten von Wolfgang Gießler betrachten.)

Soweit dazu. Ich bin ziemlich happy. Das Rätsel um den wundersamen Brief dürfte gelöst sein. Ich rufe Burkhard Ebert in Zuchau an. Der wird staunen, was ich da alles rausbekommen habe, frohlocke ich.

Doch Pustekuchen. „Ich habe mich schon gewundert, warum Sie nicht anrufen“, bleibt der Zuchauer gelassen, als sei es die normalste Sache der Welt, seine Briefkommunikation mittels fremder Schriftzeichen zu verfassen. Schließlich habe er ja mit seinem Namen unterschrieben ... (Wir erinnern uns: der war chinesisch gemalt...) „Ich habe die Geschichte über den Glinder Chinesen in der Volksstimme gelesen. Da habe ich gedacht: Na, den fragt er jetzt“, sagt Ebert. (Über den Gastlandwirt ging es im vergangenen September. Der ist schon lange wieder im Corona-Land.)

Warum aber, um alles in der Welt, schreibt Ebert solche Briefe?

Weil er an dem Land interessiert sei und an der Volkshochschule in Magdeburg einen Lehrgang besucht habe. „Wenn ich Asiaten, die nach China aussehen, im Zug treffe, begrüße ich die“, erzählt Burkhard Ebert. Die würden dann vor Staunen immer kullerrunde Augen bekommen. Dann erklärt er mir noch, wie viele Schriftzeichen ein Durchschnittschinese im Alltag beherrschen müsse. Es seien rund 300. „Wer allerdings die Parteizeitung lesen möchte oder muss, sollte 4000 Zeichen können“, sagt Ebert, und man meint ihn auf der anderen Seite des Telefons regelrecht grinsen zu sehen.