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Gericht Schönebeck Toter Zeuge verhilft Justitia zum Sieg

Ein 30-Jähriger wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einem halben Jahr Haft vom Amtsgericht Schönebeck verurteilt.

Von Bernd Kaufholz 15.09.2017, 15:17

Schönebeck l Strafrichter Eike Bruns hat einen 30-jährigen Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten Haft – zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt – verurteilt. Das Gericht sah es für erwiesen an, dass Michael V. vor einem knappen Jahr eine 77 Jahre alte Radfahrerin in Kleinmühlingen angefahren und dabei so schwer verletzt habe, dass die Rentnerin kurze Zeit später starb.

Staatsanwältin Sylvia Lerch hatte dem Fahrer einer Paketfirma vorgeworfen, am 11. November des vergangenen Jahres, kurz nach 10 Uhr, grob fahrlässig gehandelt zu haben, als er mit einem Citroen „Jumper“ rückwärts fuhr. „Nachdem der Angeklagte in der Kirchstraße ein Paket ausgeliefert hatte, vergewisserte er sich nicht genügend, ob die Straße hinter seinem Auto frei war. Außerdem fuhr er mit einer Geschwindigkeit zwischen 16 und 21 Stundenkilometern viel zu schnell.“ Erschwerend sei hinzugekommen, dass seine Sicht durch eine verschmutzte Rückscheibe und aufgestapelte Pakete verstellt gewesen sei.

Im Namen seines Mandanten äußerte sich Rechtsanwalt Jens-Uwe Siebert zum Tatvorwurf. Er schilderte die Situation, sagte jedoch, dass sich V. über den Innenspiegel versichert habe, dass die Straße hinter seinem Lieferfahrzeug frei war. Unzutreffend sei, dass V. die Sicht versperrt war. „Mein Mandant ist etwa zwei Meter bis zur Unfallstelle langsam gefahren.“ Das Auto sei „ohne, dass der Fahrer Gas gegeben hatte, nur gerollt“. Die von der Staatsanwaltschaft in der Anklage aufgeführte Geschwindigkeit sei viel zu hoch angesetzt.

Die Radfahrerin, die noch ausweichen wollte, war vom Citroen mit der hinteren rechten Seite erfasst worden und fünf Meter weit über die Straße geschleudert worden, wo sie hart aufschlug. Richter Bruns zitierte aus dem rechtsmedizinischen Gutachten: „Schweres Schädel-Hirn-Trauma, Schädelbruch, umfangreiche Verletzungen links, mehrere Rippenbrüche.“ Das Gutachten geht von einer hohen Aufprallenergie aus.

Es gab einen direkten Unfallzeugen, einen Gemeindearbeiter, der etwa 20 Meter vom Ort des Geschehens in der Kirchstraße im Multicar saß und die tragische Szene beobachtet hatte. Allerdings konnte der damals 54-Jährige beim Prozess nicht gehört werden, er war im Mai dieses Jahres gestorben. Trotzdem half Guido K. auch noch nach seinem Tod, das Geschehen aufzuklären. Mit Einverständnis der Prozessbeteiligten verlas der Richter die Aussage des Zeugen, die er kurz nach dem Unfall bei der Polizei gemacht hatte. Der Paketbote sei „drei, vier Meter zügig rückwärts gefahren“, hieß es darin unter anderem.

Von besonderem Interesse war das Gutachten eines Magdeburger Unfallanalytikers. Weil die Polizei gute Arbeit geleistet hat und die Straße kaum befahren werde, habe sich ihm ein „gutes Spurenbild“ geboten. Martin Kandler sagte, dass aufgrund der fünf Meter, die die 77-Jährige geschleudert worden sei, die Geschwindigkeit des Citroens zwischen 15 und 32 Stundenkilometer betragen haben muss. Die 3,2 Meter lange Bremsspur konkretisiere die Geschwindigkeit weiter auf 22 bis 24 Stundenkilometer bei Bremsbeginn. Beim Aufprall habe sie zwischen 15 und 21 Stundenkilometer betragen. Das Opfer habe keine Zeit mehr gehabt, um zu reagieren. „Um Haaresbreite. 0,5 bis 0,7 Sekunden mehr Zeit, um auszuweichen und die Unfallfolgen wären wohl nicht so gravierend gewesen.“

Staatsanwältin Lerch, die ein halbes Jahr Bewährungsstrafe gefordert hatte, verwies in ihrem Plädoyer auf den „Zeitdruck, unter dem Lieferfahrer stehen“. Als Beweis zog sie die Tatsache heran, dass der Citroen mit laufendem Motor gestanden habe, als V. auslieferte. Die Zeugenaussage und das Gutachten ließen keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten.

Das sah der Strafverteidiger allerdings völlig anders. Er zweifelte sowohl die protokollierte Aussage des verstorbenen Zeugen, als auch die wichtigsten Passagen des Unfallgutachtens an. Er forderte Freispruch.

Strafrichter Bruns schloss sich dem Antrag der Staatsanwältin an. Zum Angeklagten sagte er: „Die Beweisaufnahme hat Ihre Darstellung widerlegt. Der von Ihnen geschilderte Hergang war wohl eher der Versuch, für sich selbst eine Erklärung für den tragischen Tod der Frau zu finden.“ Die Aussage des Gemeindearbeiters nannte er: „Detailgetreu und nachvollziehbar. Ich bin mir zudem sicher, dass ihre Orientierung nach hinten nicht ausreichend war.“ Es sei wohl fast ein „Blindflug“ gewesen. Die Geschwindigkeit von mindestens 15 Stundenkilometer sei für das Rückwärtsfahren viel zu hoch gewesen.

V. muss zusätzlich 1200 Euro Geldauflage an das Kinderhospiz der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg zahlen. Das Urteil wurde noch im Gerichtssaal rechtskräftig, weil Angeklagter und Staatsanwältin Rechtsmittelverzicht erklärten.