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Gerichtsprozess Bizarrer Fall im Amtsgericht

Weil er drei Bankangestellte in Schönebeck sexuell beleidigt hat, muss ein 44-Jähriger eine Geldstrafe in Höhe von 325 Euro bezahlen.

Von Bernd Kaufholz 08.06.2017, 23:01

Schönebeck l Der Prozess war „bizarr“, wie Strafrichter Eike Bruns während der Verhandlung mehrfach betonte. Und das lag weniger in der Straftat selbst, als in der Persönlichkeit des Angeklagten begründet. Mit starrem Blick, weit entrückt von dieser Welt, irgendwo in fremden Galaxien kreisend, schaute der Mann mit den dunklen Locken mehr als zwei Stunden lang schweigend auf das Fenster gegenüber der Anklagebank. Bis auf den kleinen Moment, da er dem Richter ins Wort fiel und fragte: „Kann ich noch mal aufs Klo gehen?“, stand für die Prozessbeobachter, die es nicht besser wussten, die Frage im Raum, ob S. vielleicht wirklich nicht sprechen kann.

Doch er kann. Er will aber nicht, wurde in jenem Augenblick des „Stimme-Erwachens“ klar. Nur das Warum des „Schweigens im Walde“ stand zu diesem Zeitpunkt noch im Raum. Doch dazu später. Nach dem mühevollen Abgleichen der Personalien des Angeklagten, die er erst nach mehrmaliger Aufforderung durch den Richter und nach Zureden von Pflichtverteidiger Tobias Eike mit leichtem Nicken bestätigte, verlas Staatsanwalt Carsten Meyer die Anklage: „Der Mario S. hat am 12. Februar 2016 gegen 14.20 Uhr drei Mitarbeiterinnen einer Bank in der Geschwister-Scholl-Straße sexuell beleidigt.“ Er sei in die Filiale gekommen und habe am Serviceschalter, der mit drei Frauen besetzt war, Kontoauszüger verlangt.

Da er jedoch weder Personalausweis noch EC-Karte bei sich hatte und er zudem Kunde einer anderen Bankfiliale war, sei er dorthin verwiesen worden. Darüber habe sich S. dermaßen aufgeregt, dass er seine seit Jahren geübte verbale Zurückhaltung vergessen und einer 27 Jahre alten Angestellten eine eindeutige Frage gestellt hatte: „Wenn ich schon keinen Auszug kriege, kannst Du mir dann wenigstens einen b…?“ Als er des Hauses verwiesen wurde, fragte er eine weitere Mitarbeiterin: „Gehen wir zu dir oder zu mir?“ Das angedeutete Lecken sei mehr als deutlich gewesen. Beim Verlassen des Gebäudes habe sich der Angeklagte dann blitzschnell zu der hinter ihm gehenden Mitarbeiterin herumgedreht und wollte ihr mit beiden Händen gezielt an die Oberweite greifen. Da sich die 25-Jährige noch leicht zur Seite drehen konnte, berührte er nur eine Brust.

Bevor die Bankkauffrauen die Anklage bestätigten und weitere Details der Tat schilderten, war der 72 Jahre alte Vater des Angeklagten gehört worden. Der Sohn, der auf dem Sofa der elterlichen Wohnung nächtigt, obwohl er eine eigene Wohnung hat, verweigere seit mehr als drei Jahren Gespräche. „Er war Berufskraftfahrer in Burg. Da hat er wohl die Fahrten nach eigenem Gutdünken umgestellt.

Nachdem ihm gekündigt wurde, hat sich das Nicht-Sprechen-Wollen bei ihm verstärkt.“ Zum ersten Mal aufgefallen, sei ihm das, als sie nach der Kündigung beim Anwalt waren. Vor der Tür habe er kehrt gemacht und sei wortlos weggegangen. Von diesem Augenblick an habe er einfach „dicht“ gemacht. Er habe alle sozialen Kontakte abgebrochen und kümmere sich um rein gar nichts mehr. Ein „Eigenbrötler“ sei sein Sohn jedoch schon immer gewesen. Heute sitze er nur noch vor dem Fernseher oder verschwinde für ein paar Tage mit der Bahn. S. sei auch schon mal in der Psychiatrie gewesen. Er ist in Calbe auf ein Gerüst geklettert. Es hieß, dass er runterspringen wollte.“ Aber der Sohn habe ihm gesagt, dass er sich nur mal die Stadt von oben ansehen wollte. Die Nervenklinik hatte S. nach zwei Tagen wieder nach Hause geschickt, weil er sich nicht behandeln lassen wollte. Der Betreuer des Angeklagten sagte dem Gericht, dass eine Betreuung „eigentlich gar keinen Sinn“ mache, da S. alle Maßnahmen boykottiere. Die Betreuung laufe nur über den Vater.

Den wichtigsten Part im Prozess spielte Christine Wildt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie attestierte dem Angeklagten eine spezielle Form der Schizophrenie, die in der Pubertät beginne und sich ab dem 20. Lebensjahr verstärke. Bei diesen Kranken komme „emotional nichts an“. Die Erkrankung gehöre zu den Eingangsmerkmalen für den Paragraphen 21, Strafgesetzbuch (verminderte Schuldfähigkeit). Die Gutachterin betonte, dass sie sich nur aufgrund des Prozesses ein Bild machen konnte, weil S. es abgelehnt habe, mit ihr zu sprechen. Zum Fall selbst sagte sie, dass sich der Angeklagte in der Bankfiliale „auf die sexuelle Schiene begeben“ habe, um seine Erregung über die verweigerte Auskunft abzubauen. Seine Steuerungsfähigkeit sei erheblich eingeschränkt gewesen. Mit seinem Urteil lag Richter Bruns unter dem Antrag des Staatsanwalts (455 Euro) und dem zuvor erlassenen Strafbefehl (520 Euro).

Im Gegensatz zum Strafverteidiger, der Freispruch gefordert und eine „höchstrichterliche Entscheidung“ herangezogen hatte, die aus seiner Sicht das „Brustgrapschen“ nicht als sexuelle Beleidigung sehe, sagte Bruns: „In Schönebeck ist und bleibt Brustgrapschen strafbar. Der Angeklagte hat sich der Beleidigung durch Missachtung der Personen strafbar gemacht. Frauen sind keine sexuelle Verfügungsmasse.“ Er habe sich der Gutachterin angeschlossen, aber „letztlich wisse nur S. selbst, ob er nicht in der Lage ist zu sprechen oder es nicht will.“ Das ebenfalls angeklagte Verfahren wegen Schwarzfahrens mit der Deutschen Bahn am 6. Dezember 2016 – Schaden: 48 Euro – wurde aufgrund von Geringfügigkeit eingestellt.