1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Schönebeck
  6. >
  7. 1800 KZ-Häftlinge über die Brücke getrieben

Geschichte 1800 KZ-Häftlinge über die Brücke getrieben

In der lokalen Geschichtsschreibung um Barby gibt es kaum Berichte über das Schicksal der KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter.

Von Thomas Linßner 24.06.2020, 12:54

Schönebeck/Barby l Heute jährt sich der Todestag von Józef Szajna zum 12. Mal. Der Pole musste im Buchenwald-Außenlager Schönebeck Zwangsarbeit leisten. Auf der Barbyer Elbbrücke stand er zum letzten Mal in seinem Leben vor 20 Jahren, im Sommer 2000. Zum ersten Mal lief der KZ-Häftling im April 1945 über deren Gleise.

Szajna, der als Erfinder der Performance gilt, dessen Installationen, Zeichnungen und Bühnenbildentwürfe in aller Welt zu sehen sind, der sich als Theaterleiter und Regisseur weit über die Grenzen Polens hinaus Anerkennung erworben hatte, war ein Menschenfreund und bescheidener Zeitgenosse. Und das, nach all den Jahren in deutschen Konzentrationslagern, die er nur zufällig überlebte.

Bei seinem Besuch in Schönebeck und Barby war Jósef Szajna auf den Spuren seines schlimmsten Lebensabschnittes.

An das Buchenwald-Außenlager „Julius“ der Junkerswerke Schönebeck erinnert heute nur noch ein schlichter Gedenkstein. Es gibt kaum noch Identifikationspunkte, die vergangene Bilder wach rufen.

Als das Lager in der Nacht vom 11. zum 12. April 1945 in Richtung Osten evakuiert wurde, sahen die 1800 (!) Häftlinge nicht viel von der Landschaft. Woran sollte sich Józef Szajna als einer von ihnen also erinnern?

An der Barbyer Elbbrücke war das anders. Das prägnante Bauwerk hat sich in den Jahren unwesentlich verändert. Bei seinem Besuch im Juni 2000 war dem damals 78-Jährigen anzumerken, wie langsam die verschütteten Bilder der Vergangenheit zurückkehrten.

Jósef Szajna erinnerte sich an einen Eisenbahnzug, der in der Dunkelheit laut pfeifend und ohne Licht von Barby kommend in Richtung Güterglück fuhr. Die Dampfpfeife wird der Lokführer aus zwei Gründen ständig betätigt haben: Er vermutete Menschen auf dem Bahndamm. Und – er musste sich bemerkbar machen, weil in jenen Tagen massenweise Brücken in die Luft gesprengt wurden.

„Wir haben immer versucht, die Evakuierung hinauszuzögern, um nicht in Richtung Osten zu müssen, der noch fest in deutscher Hand war“, erinnerte sich der perfekt deutsch sprechende Pole.

Als die Häftlinge von Schönebeck über Pömmelte nach Barby getrieben wurden, war an Jósef Szajnas Seite auch sein Freund Edward Salwa. Der hatte sich Monate zuvor am Presswerk für Verkleidungsteile die Hand gebrochen. Aus Angst, wegen Leistungsminderung liquidiert zu werden, arbeitete Salwa unter schlimmen Schmerzen weiter. Seine Hand verkrüppelte. In den Wirren des hektischen Häftlingsmarsches des 11. April verloren sich beide aus den Augen.

Die Wachmannschaft trieb die ausgemergelten Gestalten schließlich über die Elbbrücke. „Wir haben genau bemerkt, dass sich die SS-Leute nicht mehr wohl in ihrer Haut fühlten. Die Amerikaner waren ihnen auf den Fersen“, berichtete Szajna. Er musste abwechselnd mit weiteren Häftlingen eine schwere Kiste auf den Schienen entlang schieben, in der er Sprengstoff vermutete. Den Häftlingen war ja nicht verborgen geblieben, dass Brücken in die Luft gesprengt wurden. „Wir hatten Angst, dass das gleich geschah und wir waren in der Nähe“, so der Professor.

Wie viele Male in seinem Leben kam ihm das gnädige Schicksal zur Hilfe. Der junge Pole wurde auf der ostelbischen Seite der Brücke derb beiseite gedrängt, so dass er etwa dreieinhalb Meter den Bahndamm herunter rutschte. Was nun folgte, liest sich wie in einem Landserroman. Der damals 22-Jährige fiel genau in eine Wehrmachts-Beobachtungsstellung, die sich dort in den weichen Auengrund eingegraben hatte. „Es war völlig dunkel. Ich fühlte einen Körper. Als ich nach ihm tastete, bemerkte ich Koppelzeug und erkannte die Umrisse eines Stahlhelms. Ich wusste, dass es sich nur um einen deutschen Soldaten handeln konnte“, so Szajna. Blitzartig ergriff er die Flucht. Zu seiner Verwunderung ließen ihn die Deutschen laufen, schossen nicht auf den über die Elbwiese flüchtenden Häftling.

Bei Flötz versteckte er sich in einem Strohdiemen. Dort sollte er vier Tage zubringen.

Am frühen Abend des 12. April gab es eine gewaltige Explosion. Die Elbbrücke, über die Stunden zuvor Häftlinge des Lagers Julius getrieben wurden, flog in die Luft. Jósef Szajna hörte es in seinem Strohhaufen. Kurz danach bewegten sich nur wenige Meter von ihm entfernt deutsche Soldaten und ein Sturmgeschütz vorbei. Vier Tage ohne Nahrung und mit viel Angst – die Nerven lagen blank.

Als er endlich das Versteck verließ, kamen ihm in der Dämmerung Gestalten entgegen. „Wer war das, der da auf mich zu kam? Ich habe am Bahndamm gesessen und in jede Hand ein paar Schottersteine genommen. Es waren meine einzigen Waffen …“ erinnerte sich der Pole. Groß war die Erleichterung, als er zwei Männer erkannte, die die gleiche, gestreifte Kluft trugen wie er.

„In der Nähe der Brücke sahen wir dann einige tote Häftlinge liegen, worunter auch Edward Salwa war. Ich habe ihn an seiner Hand erkannt“, erinnerte sich Szajna bitter. „Es verfolgt mich bis heute, was aus seiner Leiche geworden ist, wo er begraben liegt.“

Diese Aussage wurde bestätigt von dem deutschen Soldaten Rolf Stedingk, der Leichen von Häftlingen am Bahndamm liegen sah. Seiner Meinung nach wurden sie aus einem Zug geworfen. Stedingk war jener Wehrmachtssoldat, der den Hebel der Sprengmaschine herunter drückte und damit die Elbbrücke sprengte.

Derweil die gefallenen deutschen Soldaten überwiegend identifiziert beigesetzt wurden, ist bis heute unklar, was aus den KZ-Häftlingen wurde. Wo wurde Edward Salwa beerdigt?

Bis an sein Lebensende zornig wurde Szajna immer dann, wenn er folgende Episode erzählte: In Walternienburg baten die hungrigen Häftlinge einen alten Bauern um Brot und Milch. „Der saß von zwei großen Hunden bewacht vor seinem Haus im Schaukelstuhl und tat so, als ob ihn der Einmarsch der Amerikaner überhaupt nichts angehe. Er sagte zynisch zu uns: ‘Geht zum Arbeitsamt und beweist, dass ihr gearbeitet habt, dann bekommt ihr auch was zu essen’.“,

Auf dem Weg nach Westen überquerten die Häftlinge dann eine Elb-Pontonbrücke der Amerikaner. In Barby nahmen sie Kontakt zur US-Kommandantur auf.

Die ausgemergelten Männer trugen nur Holzschuhe und ihre gestreifte Häftlingskleidung. Der Stadt-Kommandant wies ihnen ein Textilgeschäft auf dem Markt zu, wo sie sich neu einkleiden konnten.

„Es war vielleicht komisch, nach so langer Zeit im schwarzen Anzug und Halbschuhen herumzulaufen“, lächelte Szajna. (Barbyer Augenzeugen werden später von „fürchterlichen Plünderungen“ der Zwangsarbeiter berichten. Damit sind Zwangsarbeiter gemeint, die wutentbrannt die Inneneinrichtungen des Schlosses verwüsteten und auch Barbyer Geschäfte nicht ausließen. Von KZ-Häftlingen wurde nie ein Wort gesprochen …) Im Haus der amerikanischen Kommandantur konnten die Häftlinge ein Bad nehmen und bekamen etwas zu essen. Drei oder vier Nächte blieben die Männer in Barby, um dann in Richtung Eickendorf zu marschieren.

Etwa zwei Wochen nach der Befreiung ging Jósef Szajna noch einmal in sein Lager „Julius“ zurück. Er hatte in seinem Strohsack mehrere Zeichnungen versteckt, die er beim Abtransport zurück ließ. Gefangene deutsche Soldaten machten dort Ordnung und desinfizierten das Lager. Dem ehemaligen Häftling gelang es, seinen Strohsack zu finden und die Zeichnungen an sich zu nehmen.

Heute sind die Schönebecker Blätter im Museum Auschwitz zu sehen.