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Geschichte Haare für Honeckers Pantoffeln?

Friseurmeister Jürgen Gutsche (66) hat schon viel in seinem kleinen Salon in der Gnadauer Bahnhofstraße erlebt.

Von Thomas Linßner 04.03.2019, 04:55

Gnadau l „Da sind sie ja, meine Pantoffeln!“, lässt Drehbuchschreiber Markus Thebe den Genossen Erich Honecker in der Komödie „Vorwärts immer!“, mit Jörg Schüttauf als (falscher) Generalsekretär, sagen.

Jürgen Gutsche ist darüber erheitert: Er vermutet, dass die Pantoffeln nicht bei der Bevölkerung, sondern direkt bei Erich Honecker unter dem Bett standen. Schließlich sei auch Dämmmaterial knapp gewesen. Haare aus Gnadau an Honeckers Füßen? Eine interessante Vorstellung.

Pantoffeln? Honecker?

„Wir durften Haar, das in unserem Salon zum Boden fiel, nicht wegschmeißen“, erzählt Gutsche. „Es gab schließlich ein Haarsoll!“ Die Friseure seien damals angewiesen worden, nach Feierabend die Haare fein säuberlich zusammenzukehren und einzutüten. Denn die mehr oder weniger langen Hornfäden bestehen im Wesentlichen aus Keratin und wurden weiter verwertet.

Gutsche vermutet den Einsatz in der chemischen Industrie, spricht aber auch von der Verwendung für Perücken und Filzpantoffeln.

„Etwa alle viertel Jahr kam ein Aufkäufer aus Stendal vorbei und holte die Papiertüten ab“, erzählt der 66-Jährige. Dabei seien jedes Mal „so um die zehn Kilogramm“ zusammen gekommen. „Ich weiß noch genau, dass der Abholer anfangs mit einem Trabbi kam“, erinnert sich der Friseurmeister. Das Geschäft mit dem Scherenschnitt muss sich gelohnt haben.

Man habe es an den Transportfahrzeugen gesehen, die immer größer wurden. Trabbi-Limousine, Trabbi-Kombi, Trabbi mit Hänger, Wartburg, Lada und schließlich Golf.

Es war die Zeit, als Herren eine Mark für den Rundschnitt zahlten. Die „Lockwelle“ für Damen, Lockenwickler in den Haaren, gab es für 4,65 Mark, die Dauerwelle für 16,50. Die Preise gab der Staat vor – wie vieles andere.

Jürgen Gutsche hatte das Geschäft von seinem Vater übernommen. Der hieß Günter Gutsche und erlebte in Sachen „Haarsoll“ keine guten Zeiten. Die Männer wollten in den 60er-Jahren Beatles-Frisuren. Dafür wurden die Salons vom Staat angezählt. Denn erstens waren lange Haare „dekadente Westmode“, zweitens musste jeder Friseur die Schnitthaare abgeben, von denen es hieß, sie seien wichtig für den Export. Da die Männer ihre Haare aber nicht viel abschneiden lassen wollten, blieb das Schnitthaar kurz.

Anders war es bei der Nationalen Volksarmee. Jürgen Gutsche diente in Lehnin (Brandenburg) - natürlich in der Kombination Friseur/Schreiber. Wer zur Fahne kam, bei dem fiel „die lange Matte“ konsequent. Nach den Einberufungen türmte sich das lange Männerhaar in Haufen. „Den jungen Soldaten standen manchmal die Tränen in den Augen, wenn sie sich danach im Spiegel sahen“, verzieht der 66-Jährig noch heute mitleidvoll das Gesicht. Denn in jener Zeit habe kaum ein Kerl im Zivilleben kurze Haare getragen. Wer so daher kam, bei dem wussten die Leute: der kommt aus dem Knast oder ist bei der Fahne.

Jedenfalls wurde das „Haarsoll“ von den Genossen Figaros unterstützt.

Per Dienstvorschrift und Befehl, sozusagen.

„Aber heute ist das auch nicht viel anders. Allerdings aus anderen Gründen“, winkt Jürgen Gutsche ab. Entgegen der damaligen Mode liege „fast Glatze“ im Trend. Zwar haben die Scherenschnitt-Handwerker kein Soll mehr - wer aber selbst den Elektrorasierer über seine Kopfhaut schiebt, geht nicht zum Friseur.

Begründer des Gnadauer Salons war in den 1930er Jahren Oswald Gutsche, der von Posen nach Barby kam. Er war noch einer jener „mobilen Friseure“, die ihr Handwerkszeug in der Ledertasche bei sich trugen und die Kunden Zuhause besuchten. Ihm folgte Günter Gutsche, der den Salon in der Bahnhofstraße gründete.

Auch Jürgens Sohn Andreas - der gleichzeitig Ortsbürgermeister der Parkgemeinde ist - ist in vierter Generation Figaro.