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Interview Wenn sich Frust daheim ein Ventil sucht

Familiäre Nähe kann auch Konfliktpotenzial bieten. Hilfe für Betroffene aus dem Salzlandkreis gibt es in Dessau-Roßlau.

Von Heike Liensdorf 07.04.2020, 12:48

Schönebeck l Ob mit den Kindern wegen geschlossener Kita und Schule daheim, ob Homeoffice, ob Quarantäne: Familiäre Nähe kann gerade in der Corona-Krise vermehrt Konfliktpotenzial bieten. Das weiß Beate Uhlig von der Interventionsstelle Dessau-Roßlau unter dem Dach der Arbeiterwohlfahrt. Betroffene aus dem Salzlandkreis, die häusliche Gewalt erfahren, können sich bei ihr melden – sie bietet Hilfe an. Die Volksstimme hat sie dazu befragt.

Rechnen Sie damit, dass das Zuhause-Bleiben in Familien und Partnerschaften auch zu mehr häuslicher Gewalt führt?
Beate Uhlig: Ich rechne auf jeden Fall damit, dass die aktuellen Einschränkungen dazu führen, dass es in Familien und Partnerschaften zu einem Anstieg häuslicher Gewalt kommen wird.

Warum ist das so?
Erfahrungen zufolge kommt es an Feiertagen – wie das nun anstehende Osterfest – stets zu einem Anstieg häuslicher Gewalt. Räumliche Nähe und Alkohol bringen ein höheres Konfliktpotenzial mit sich. Das sind allerdings überschaubar kurze Zeiträume, eben die Feiertage nur. Durch das Coronavirus gibt es nun ungewohnt starke Einschränkungen im gesamten Alltag. Die Situation für jeden neu und zeitlich nicht absehbar. Da kommt vieles zusammen: Die Kinder müssen zuhause betreut werden. Schüler können vielleicht bei Hausaufgaben intellektuell nicht ausreichend unterstützt werden.Die Eltern haben keine ausreichende Ruhe für das Arbeiten von daheim aus. Menschen, die in systemrelevanten Berufen tätig sind, sind überarbeitet. Dazu die staatlich reglementierten Ausgangsbeschränkungen. Ein öffentliches Leben findet nicht statt: Restaurants, Kneipen, Fitnessstudios, Schwimmhallen, Freizeiteinrichtungen ... sind geschlossen. Der Einkaufsbummel, das Pflegen der sozialen Kontakte ist nicht oder kaum möglich.Die gesundheitlichen Maßnahmen müssen eingehalten werden, das wird kontrolliert und unter Umständen geahndet. Entspannungszeiten, also Urlaube, können nicht realisiert werden. Nicht selten kommt es zu plötzlichem Verdienstausfall, zu Existenzängsten, zu drohender Arbeitslosigkeit. Laufende Kosten können nicht mehr gedeckt werden, Schulden entstehen. Das alles führt zu Verunsicherung, Langeweile, Frust, Wut, Angst vor Ansteckung, Depression. Je länger diese Einschränkungen anhalten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frust und Wut in den eigenen vier Wänden ein Ventil suchen. Es kommt zum Streit oder zu verschiedenen Gewaltformen. Nach meiner Einschätzung wird es auch zu häuslicher Gewalt in Familien kommen, die bisher Konflikte gewaltfrei lösen konnten.

Daheim sicher vor dem Corona-Virus, aber nicht sicher vor den Wutausbrüchen des Partners: Was raten Sie da?
Bei Streit sollte kurzzeitig eine räumliche Trennung angestrebt werden, zum Beispiel eine Runde spazieren gehen. Das Halten von telefonischen und elektronischen Kontakt zu Freunden und zur Familie ist wichtig, Vertraute sollten eingeweiht werden. Betroffene können verschiedene kostenlose Beratungsangebote nutzen: das bundesweite Hilfetelefon für Frauen, Interventionsstellen – auch für männliche Opfer, Frauenberatungsstellen, Beratungsstellen bei sexualisierter Gewalt ... Viele Hilfen gibt es auch vor Ort wie Frauenschutzhäuser oder Jugendämter. Mit der Beraterin wird ein Sicherheitsplan erstellt, wie man sich und die Kinder schützen kann, wenn es eskaliert. Wichtig ist aber: Bei Gefahr und Bedrohung sollte immer die Polizei gerufen werden. Es gibt dann polizeirechtliche Maßnahmen, die in Anspruch genommen werden können wie Wegweisung des Täters oder der Täterin oder Kontaktverbote. Oder es könne gerichtliche Maßnahmen eingeleitet werden. Das ermöglicht das Gewaltschutzgesetz.

Die Ausgangsbeschränkungen gelten noch nicht so lange ... Hatten Sie schon erste Fälle?
Diese Anfrage ist meines Erachtens verfrüht. In der Interventionsstelle Dessau, die auch für den Salzlandkreis zuständig ist, ist bisher kein Anstieg der Fallzahlen zu verzeichnen. Damit habe ich auch nicht gerechnet. Ich bin mir aber sicher, dass sich das bald ändern wird, vermutlich um Ostern und in der Zeit danach, da nicht zu erwarten ist, dass die Ausgangsbeschränkungen gelockert werden können.

Kontakt: Telefon: (0340) 66 12 85 39, Mail: intervention.dessau@spi-ost.de, Internetseite