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Jahrgangstreffen Erinnerung an Porree-Zeiten

Bei den Treffen des Jahrgangs 1956 der Oberschule Barby erinnert man sich so mancher Episode...

Von Thomas Linßner 02.06.2016, 17:29

Barby l Es war im Sommer vor 63 Jahren. In der jungen DDR brodelte es. Die Erhöhung der Arbeitsnormen trieb große Teile des werktätigen Volkes auf die Barrikaden. Der Aufstand am 17. Juni 1953 wurde von der Sowjetarmee blutig niedergeschlagen ...

Wenig später streikten auch die Schüler der Barbyer „Penne“. „Aber nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken“, lächelt Peter Liebs (79) aus Berlin. „Es war der Porree-Streik“, ergänzt Hannelore Zange (geb. Zetsch), die aus Erfurt angereist ist.

Und der kam so: Sportlehrer Adalbert Biniarz funktionierte einen Teil des Gemüsegartens zum Sportplatz um, was die Küchenchefin der Oberschule in Harnisch brachte. Bis zu hundert Internatsschüler wollten schließlich verpflegt sein. Und dann so was!

„Wir Mädels waren allesamt in den verliebt“, gesteht Hannelore Zange, die später selbst Lehrerin wurde. Sport-Biniarz scherte sich wenig um Konventionen. Er ging abends auch mal ein Bier trinken, was sich zur damaligen Zeit für einen Oberschullehrer nicht unbedingt ziemte. Dadurch hatte er aber schnell Kontakt zur Bevölkerung. So war es kein Problem, bei Tischler Mücke Hochsprung­latten zu organisieren oder Schlosser Schmidt dafür zu erwärmen, die marode Heizung zu reparieren. Biniarz war aber auch ein ganz Unerbittlicher, wenn er die Truppe morgens mit der Trillerpfeife aus dem Bett holte und die dann in kurzer Hose über den Elbwerder gescheucht wurde. Sommers wie winters. Mens sana in corpore sano; in einem gesunden Körper wohnt schließlich auch ein gesunder Geist …

Doch zurück zum Streik. Die Schüler sollten bei der Porree-Ernte helfen. „Wir wollten aber lieber Biniarz beim Sportplatzbau unterstützen“, erinnert sich Hannelore Zange. Die Porree-Mahlzeiten hätten den Schülern ohnehin zum Halse heraus gehangen. So verabredete sich das gesamte Schulvolk, das Mittagessen zu boykottieren. Es gab, wie sich der geneigte Leser denken kann, Porree … Diese Ungeheuerlichkeit der kollektiven Nahrungsverweigerung zu Zeiten von Reparationsleistungen und Lebensmittelkarten machte das Schulamt hellhörig. Vor dem Hintergrund des 17. Juni-Traumas reagierte der Staat äußerst dünnhäutig. „Was“, werden die Funktionäre mit den Augen gerollt haben, „in Barby verweigern sich die Oberschüler gemeinschaftlich? Was kommt als Nächstes?“

Daraufhin wurde eine Untersuchungskommission geschickt, der es um alles andere, aber nicht um Gemüse ging. „Sie stellte bei dieser Gelegenheit viele ‚Missstände‘ fest“, sagt die Erfurterin. Dazu zählten beispielsweise die skandalöse Höflichkeitsformel „Gesegnete Mahlzeit“ oder die „Literarische Andacht“. Das roch nach Religion und gehörte abgeschafft, in Zeiten des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Viele der Barbyer Internatsschüler waren Heimatvertriebene, viele hatten keinen Vater mehr, weil der gefallen war. Dazu zählt Dr. Ewald Lingnau, der später in Stendal als Tierarzt arbeitete. Der Jahrgang 1937 stammt aus Ostpreußen, landete mit einer Schwester und der Mutter 1947 in Schönebeck. Sein älterer Bruder und der Vater wurden von der Roten Armee in ein Arbeitslager nach Sibirien deportiert, wo sie vermutlich an Typhus starben. Ewald Lingnaus Mutter verkraftete dieses Schicksal nicht, sie starb 1955 in der Nervenheilanstalt Bernburg. Vor diesem Hintergrund musste sich der junge Mann durchkämpfen und fand im Internat eine neue Heimat.

In Situationen wie dieser war man ohnehin zielstrebiger als heute, was die eigene Zukunft betraf. Eine beträchtliche Zahl der Jugendlichen ging nach der 8. bzw. 10. Klasse ab, um endlich Geld zu verdienen.

Bis 1962 bestand in Barby die (Erweiterte) Oberschule (später EOS) „Friedrich Engels“, deren letzter Direktor Musiklehrer Otto Brückner war. Sie befand sich auf dem Gelände von Marienstift (heute Awo-Pflegeheim) und Edelhof.

Die Schule besaß ein Internat, in dem auswärtige Schüler untergebracht waren. Das Barbyer Bildungswesen hatte einen überregional guten Ruf. Die Schüler kamen unter anderem aus den Landkreisen Zerbst oder Bernburg und sogar aus Mecklenburg oder Sachsen. Die Barbyer Bildungstradition wurde im preußischen Lehrerseminar begründet, das in den 1920er Jahren zur Herzog-Heinrich-Schule wurde und im Schloss untergebracht war.

Nach Schließung der Oberschule übernahm die Marktschule den Namen „Friedrich Engels“, die ihn bis zur Wende behielt.

Hannelore Zange, die es als ehemalige Lehrerin wissen muss, lobt die pädagogische Qualität und die musische Ausrichtung der Barbyer Schule: „Hier wurden Werte vermittelt, die ich meinen Schülern später auch mit auf den Lebensweg gab.“