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Judy Urman Das Lächeln der Menschlichkeit

Sie war eine der letzten Überlebenden des Holocaust: Die in Schönebeck aufgewachsene Judy Urman ist am 14. September gestorben.

Von Ulrich Meinhard 23.09.2017, 05:00

Schönebeck l Das Foto zeigte eine alte Frau. Sie ist umgeben von jungen Leuten, es sind Schüler aus Schönebeck. Das Bild entstand im März 2014. In Colorado, USA. Die alte Frau lächelt. Es ist das gleiche Lächeln, das bereits ein anderes Foto zeigt. Das wiederum ist 80 Jahre früher aufgenommen worden. Diese Frau hat viel erlebt. Sie hat viel gewonnen, viel verloren. Geblieben ist dieses Lächeln. Diese Fröhlichkeit. Diese Milde. Vielleicht ist etwas dran an dem Spruch aus China: Das Leben meistert man entweder lächelnd oder gar nicht. Judy Urman hat ihr Leben gemeistert. Lächelnd bis ins hohe Alter. Trotz allem. Trotz Vertreibung, Flucht und Schicksalsschlägen grausamer Art. Sie hat sich immer wieder ins Leben zurückgekämpft.

„Die Stadt Schönebeck erreichte die traurige Nachricht, dass die Holocaust-Überlebende Judy Urman am 14. September im Alter von 90 Jahren im Shalom-Park in Aurora, Colorado, verstorben ist.“ Schönebecks Stadtsprecher Hans-Peter Wannewitz verbreitete am Montag diese Nachricht (Volksstimme berichtete). Er schreibt weiter: „Judy Urman ist die Schwester von Ruth Lübschütz, die von den Nazis wie viele andere Jüdinnen und Juden während des Holocausts ermordet worden war und deren Name heute ein Schönebecker Platz trägt.“ Und: „Judy Urman hat sich gemeinsam mit ihrem Ehemann Ernest unter anderem durch die Stiftung des ‚Urman-Preises‘ für Schüler um die verantwortungsvolle Aufarbeitung der regionalen Geschichte Schönebecks in der dunkelsten deutschen Zeit zwischen 1933 und 1945 verdient gemacht.“

„Mein Name ist Judy Urman. Ich wurde am 15. Mai 1927 als Jutta Lübschütz im Allgemeinen Krankenhaus in Magdeburg geboren. Meine Eltern Else und Julius Lübschütz wohnten damals in Schönebeck in der Friedrichstraße 94.“ Judy Urman erinnert sich als erwachsene Frau an ihre Kindheit in Schönebeck. Sie schreibt sogar ein Buch, dem diese Passage entnommen ist. Es handelt nur in wenigen Sätzen von einer unbeschwerten Kinderzeit, etwa, wenn sie einen gewissen Michael anlässlich ihres fünften Geburtstages fragt, ob er sie später heiraten wolle. Michael sagt nein. Schon auf der ersten Seite beginnt die Beschreibung von Verfolgung, Drangsal, Flucht. Und schließlich von Neubeginn. Freilich nicht in der Heimat, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade noch rechtzeitig gelingt der damals 13-Jährigen im Jahr 1940 gemeinsam mit ihren Eltern die Flucht aus dem in Barbarei versinkenden Deutschland. Es ist eine abenteuerliche Geschichte wider Willen, die das Mädchen zuerst nach Shanghai führt, wo neue Repressalien warten durch die japanischen Besatzer. Im Exil lernt sie Ernst Urman kennen. Eine Liebe für das gesamte spätere Leben.

Kurz vor und auch nach der Wende von 1990 besuchten beide mehrfach Schönebeck. Gemeinsam mit Freunden entstand die Idee, einen Urman-Preis auszuloben. Anliegen war und ist es, dass sich junge Menschen mit den Schicksalen von Personen beschäftigen, die in ihrer nächsten Umgebung Opfer von Gewaltherrschaft und Tyrannei geworden sind. Das waren zur Nazizeit vor allem Deutsche jüdischen Glaubens.

Seit Anfang der 1990er Jahre stand die Leiterin des Schönebecker Stadtarchivs, Britta Meldau, in Kontakt mit Judy Urman. Sie sagt: „Sie war eine ganz starke Frau. Ohne Hass auf das deutsche Volk. Viele der Verfolgten haben sich ja gesagt, in das Land der Täter kehre ich nie wieder zurück. So war Judy Urman nicht.“

Bereits 1987 kam sie in die alte Heimat zurück, traf hier den Jugendfreund ihrer Schwester Ruth wieder, Günter Kuntze. Kuntze wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Ruth und ihre Familie von den Nationalsozialisten ermordet worden waren. Als sich Besuch aus den USA mit dem Namen Lübschütz ankündigte, ging er davon aus, Ruth wiederzusehen, stattdessen kam ihre kleine Schwester. Kuntze ist übrigens der erste Autor, der sich mit dem jüdischen Leben in Schönebeck auseinandersetzte, er verfasste die Broschüre „Juden in Schönebeck“. Erwähnenswert daraus ist unter anderem dieser Satz, der den unfassbaren Wahnsinn jener Zeit in ein aufklärendes Licht setzt: „Auch in Schönebeck sowie in den Städten und Dörfern des Kreises Calbe wurde mit der zügellosen antisemitischen Hetze unter der Losung ‚Die Juden sind unser Unglück‘ ein Weltfeind heraufbeschworen, der die eigentlichen, die tatsächlich drohenden Gefahren, die des deutschen Faschismus nämlich, nur verdeckte. Ohne dass die Öffentlichkeit etwas erfuhr, gab es schon 1933 geheime Kriegsvorbereitungen.“

Archivarin Britta Meldau schätzt gegenüber der Volksstimme ein: „Judy Urman hat als Zeitzeugin ihre Lebenserinnerungen weitergegeben. Das ist ein großer Wert. Sie und ihr vor gut vier Jahren verstorbener Ehemann Ernest haben auf Versöhnung gesetzt.“ Neben dem erwähnten Buch existiert auch eine Videoaufzeichnung, in der Judy Urman aus ihrem Leben erzählt. Die Rechte darauf hat ihre Tochter Ruth Leland.

Kontakte pflegte Judy Urman auch zum Schalomhaus und zum Julius-Schniewind-Haus in Schönebeck, weiß Britta Meldau. Beides sind christliche Häuser. Sie bedauert, dass es um den Urman-Preis im Laufe der Jahre immer mal wieder still geworden ist – so wie gegenwärtig auch. Das hänge viel damit zusammen, ob sich an den Schulen engagierte Lehrer finden, die sich dem Anliegen annehmen. Oder eher nicht. „Wir versuchen, es weiterzuführen. Die Arbeit ist nach wie vor notwendig“, macht Britta Meldau auf ein Treffen des Vorbereitungskreises im Herbst aufmerksam.

Und sie berichtet von einem Besuch von Danielle im Sommer dieses Jahres in Schönebeck. Die Gymnasiastin ist die Enkelin von Judy Urman. „Wir sind mit ihr alle die Stellen abgelaufen, die in Beziehung standen mit ihrer Großmutter und ihrer Großtante. Das hat sie sehr interessiert. Obwohl sie durch eine Operation am Knie beeinträchtigt ist, ist sie tapfer mitgelaufen“, würdigt Britta Meldau.

In einer E-Mail der Tochter Ruth Leland an das Stadtarchiv heißt es unter anderem: „Liebe Freunde in Deutschland, … Judy hat sich nie wirklich von Ernies Tod erholt, und die letzten viereinhalb Jahre waren für sie sehr schwierig gewesen. Wir sind so sehr traurig über ihren Tod, aber dankbar, dass sie jetzt in Frieden ist.“

Schönebecks Oberbürgermeister Bert Knoblauch zeigte sich tief betroffen vom Tode der letzten überlebenden jüdischen Zeitzeugin des Schreckens der Nazizeit in der Elbestadt. Er sagte: „Judy Urman hat sich der Stadt Schönebeck und besonders der jungen Generation trotz des ihrer Familie zugefügten Leides immer verbunden gefühlt. Dafür sind wir ihr sehr dankbar.“ Das Stadtoberhaupt brachte den Angehörigen sein tief empfundenes Mitgefühl zum Ausdruck und würdigte noch einmal ausdrücklich ihr beständiges Wirken für Geschichtsaufarbeitung, Aufklärung, Verständigung und Humanismus. Die Stadt werde Judy Urman immer ein ehrendes Gedenken bewahren.

In dem von ihr verfassten Buch „Schönebeck – Shanghai – Denver“ heißt es ausklingend: „Bevor wir nach Colorado gekommen sind, habe ich oft geträumt, dass ich in jedem Ort, in dem wir gelebt haben, durch die Straßen gelaufen bin. Am Morgen war ich müde, und wenn ich zum Büro kam, fragten mich meine Kolleginnen, ob ich krank wäre. Meine Antwort war: „Wenn du letzte Nacht durch so viele Orte gelaufen wärst wie ich, würdest du auch müde sein!‘ Ich träume den Traum seit Jahren nicht mehr.“