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Jugendclub-Projekt Mit 6 Kilometer pro Stunde durchs Leben

Rollstuhlfahrer Dirk Kluge gab im Schönebecker Jugend- und Freizeitzentrum "Future" Einblicke in sein Leben.

Von Madlen Bestehorn 04.11.2017, 09:59

Schönebeck l In gemütlicher Runde sitzen ungefähr 15 Jugendliche und ein paar Erwachsene im Halbkreis um Dirk Kluge herum. Der 46-Jährige leidet seit über 20 Jahren an spinaler Muskelathrophie, einem erblich bedingten Muskelschwund. Seit 17 Jahren sitzt der Schönebecker im Rollstuhl.

Christiane Richter, Mitarbeiterin im Jugend- und Freizeitzentrum Future, hatte Dirk Kluge gefragt, ob er sich vorstellen könne, im Rahmen eines Projekttages über seinen Lebensweg zu erzählen. Er sagte zu, wollte über die Krankheit berichten.

„Denkst du, dass es irgendwann besser wird und du wieder laufen kannst?“, lautet die erste Frage. „Nein, diesen Zahn haben mir die Ärzte vor langer Zeit gezogen“, stellt Dirk Kluge klar. Der Umstand, dass er im Rollstuhl sitzt, lasse sich nicht mehr ändern.

„Es ist ein schleichender Prozess, ein stetiger Verfall“, erklärt Dirk Kluge. Das Fortschreiten der Krankheit, bei der die Muskeln immer weiter verkümmern, lasse sich durch Sport und Reha nur verlangsamen. Mittlerweile ist Dirk Kluge körperlich so eingeschränkt, dass er sich nicht alleine waschen kann. Hilfe bekommt er von Pflegedienstmitarbeitern.

Dirk Kluge würde gerne mehr Sport treiben. „Früher, als Kind, war ich eine richtige Wasserratte“, verrät er. Für die von ihm gewünschte Wassergymnastik erhält er jedoch keine finanzielle Unterstützung. Daher konzentriert er sich auf Krankengymnastik und Ergotherapie. Beides findet ein Mal pro Woche statt und dient dazu, seine momentane Beweglichkeit so lange wie möglich zu erhalten.

1993 erhielt Dirk Kluge die Diagnose „Spinale Muskelathrophie“. Danach wurde sein Zustand immer schlechter. Erst ging er mithilfe eines Gehstocks, dann mit dem Rollator, am Ende saß er im Rollstuhl. Seit nunmehr 17 Jahren.

Von einem der Jugendlichen wird er gefragt, ob er querschnittsgelähmt sei. Das hieße, die Nervenbahnen im Rückenmark wären beschädigt. Dirk Kluge antwortet: „Nein, es ist eine Erbkrankheit, bei der die Muskeln immer weniger leisten. Vor Ausbruch der Krankheit konnte ich alles, was ihr auch könnt.“ Als gelernter Betonierer schulte er mit Fortschreiten der Krankheit um, wurde Bürokaufmann. Mittlerweile ist er in Frührente.

„Wie reagieren Menschen, wenn sie dich im Rollstuhl sehen?“, lautet die nächste Frage eines jungen Mädchens. Die meisten würden pikiert und überrascht sein, erklärt Dirk Kluge. Das könne er verstehen. Aber wenn sie weglaufen, obwohl er um Hilfe bittet – aus Angst, etwas falsch zu machen – dann ärgert ihn das.

Christiane Richter hakt an dieser Stelle ein: „Also ich mit meinen gerade mal 1,60 Meter habe auch manchmal Probleme, im Supermarkt das oberste Regal zu erreichen.“ Die Kinder schmunzeln über den Vergleich. Doch sie scheinen auch zu verstehen, wie hilflos sich Dirk Kluge manches Mal fühlen muss, wenn er sich allein einem Problem gegenüber sieht.

So auch bei einem Haus ohne Aufzug: Früher zog sich Dirk Kluge mit der puren Muskelkraft seiner Arme am Treppengeländer hoch, heute braucht er einen Lift. Gibt es keinen, fällt der Besuch bei einem Freund aus oder dieser muss sich mit Dirk Kluge an einem öffentlichen Ort verabreden.

Doch damit tun sich neue Hindernisse auf: Etwa, wenn der gebürtige Schönebecker in seiner Heimatstadt ein Café besuchen möchte oder die Toilette benutzen muss. Die Gaststätten bieten keinen separaten Zugang zum Innenraum oder einen deutlich zu schmalen. Mit seinem 200 Kilogramm schweren Elektro-Rollstuhl – zum Besuch im Future fuhr er ein leichteres Modell – umzukippen, wäre fatal. Alleine würde er sich nicht aufrichten können. Doch er braucht den Rollstuhl, um sich fortzubewegen, fährt dieser doch immmerhin 6 Kilometer pro Stunde.

Öffentliche, barrierefreie Toiletten in Schönebeck könne Dirk Kluge an einer Hand abzählen. Um dem Toiletten-Problem aus dem Weg zu gehen, verzichtet Dirk Kluge unterwegs auf Essen und Trinken, notfalls auch den ganzen Tag.

Selbst der Straßenbelag kann für Dirk Kluge schwierig werden, wie er erzählt: „Der Marktplatz in Salze zum Beispiel ist sehr schön mit seinem Kopfsteinplaster, aber nichts für Gebissträger“, scherzt er. Ihnen könnten die Zähne schon mal verloren gehen, wenn sie im Rollstuhl über den Platz geschoben werden. „Ich trage zum Glück noch keine falschen Zähne, aber ordentlich durchgeschüttelt werde ich trotzdem“, erklärt Dirk Kluge.

Trotz aller Einschränkungen versucht Dirk Kluge, optimistisch zu bleiben. Er will sich seine Eigenständigkeit so lange wie möglich bewahren. „Und wenn ich dafür meine gesamte Wohnung mit Technik ausstatte, nur um nicht ins Pflegeheim zu müssen“, sagt er.

In seiner Freizeit zeigt er Jugendlichen beim Verein „Rückenwind“, wie man Körbe flechtet.

Im „Future“ könnte er sich vorstellen, öfter vorbeizukommen. „Vielleicht ließe sich ein ein Projekt starten, bei dem Jugendliche die Stadt mit den Augen eines Rollstuhlfahrers erkunden“, schlägt Christiane Richter vor. Der zwölfjährige Ben Lister findet: „Es war interessant zu erfahren, wie es Dirk mit seiner Krankheit im Alltag ergeht.“ Simon Ständer, 13 Jahre, beschreibt den Projekttag so: „Es war einfach toll, weil man ihn selber fragen konnte und seine Geschichte nicht von jemand anderem gehört hat.“

Auf die letzte Frage, was sich Dirk Kluge für die Zukunft wünsche, antwortet er: „Einfach leben“.