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Knochenfund Das Rätsel um einen Totenschädel

Bei Bauarbeiten in der St. Marienkirche stieß man auf Grabkammern. Archäologen werden sie untersuchen und die Knochen bergen.

Von Thomas Linßner 07.06.2020, 07:00

Barby l Es war zu befürchten: Bei Arbeiten zum Einbau einer modernen Gasheizung wurden mehrere Grabkammern in St. Marien berührt, die im Bereich zwischen Gestühl und Altar liegen.

Bis zur Reformationszeit war es üblich, dass hohe Geistliche und auch weltliche Persönlichkeiten in der Kirche und nicht auf dem Friedhof davor beerdigt wurden. Die Exklusivität des Begräbnisses innerhalb des Sakralraums war von besonderer Bedeutung. Je näher man am Altar lag, umso besser war es für das Seelenheil.

Die von einem Tonnengewölbe überdachten Kammern sind etwa 2,30 Meter lang, 1,40 Meter breit und 1,30 Meter hoch. Es wurden ausnahmslos klosterformatige Ziegelsteine vermauert, die größer sind, als die heute verwendeten Formen.

Die Bestimmung des Alters anhand der Sargform ist kaum noch möglich, da sich die Zinnsärge regelrecht aufgelöst haben. (Zinn zerfällt unterhalb von 13,2 Grad Celsius zu einem grauen Pulver). Man erkennt nur noch Reste des Metalls.

„Es ist die große Frage, wer ihn dort ablegte und was das für ein Mensch war.“

Die Grabkammern sind gut erhalten und innen sehr sauber verputzt; bei der Deckenwölbung wurde das Prinzip der „verlorenen Schalung“ angewendet. (Man setzte die Steine von oben auf eine Holzschalung, die dann innen verrottete.) Holzreste sind noch auffindbar.

Die Verstorbenen müssen damals mehrere Tage, wenn nicht Wochen, in ihrem Sarg „überirdisch“ aufbewahrt worden sein. Denn die Bestattung war ziemlich aufwändig: Die Platten des Kirchenbodens mussten aufgenommen, eine Grube gegraben und dann die Grabkammer gemauert werden. Wobei je nach Dichtheit des Sarges ein ausströmender Verwesungsgeruch kaum vermeidbar gewesen sein dürfte. Nach der Beisetzung erfolgte die Prozedur in umgekehrter Reihenfolge. Nur kam jetzt noch die Gewölbedecke hinzu. Eine liegende Grabplatte markierte die Gruft. Später wurden die zum Teil kunstvollen Epitaphe aufgenommen und an den Seitenwänden befestigt. So ist es auch in der Marienkirche.

Laut Klaus Strobel - er ist Vorsitzender des Gemeindekirchenrates - werde in den nächsten Tagen ein Archäologe erwartet. Unter dessen Anleitung sollen die Grabkammern von der Baufirma vorsichtig geöffnet, die Skelette untersucht und geborgen werden. Weil man den oberen Teil der Kammern für den Einbau der vier Heizungskonvektoren braucht, würden die Skelette in würdevoller Weise darunter wieder bestattet, sagt Strobel.

Doch ein Mysterium gibt es trotzdem noch. Als die Sandsteinplatten des Fußbodens aufgenommen und die Erdschicht darunter abgetragen wurde, tauchte neben einer Grabkammer ein menschlicher Schädel auf. Er ist lädiert, die rechte Gesichtshälfte fehlt unterhalb des Jochbeins ebenso wie der Unterkiefer. „Es ist die große Frage, wer ihn dort ablegte und was das für ein Mensch war“, sinniert Klaus Strobel. Warum lag der Schädel außerhalb der Gruft? Nahm ihn jemand aus seinem Grab? Und wenn ja, aus welchem? Und vor allem: Warum?

Nun sind christliche Kirchen gewiss keine Orte für pietätlose Handlungen. Fakt ist, dass die Steinplatten des Fußbodens nicht mehr die originalen aus der Gotik sind. Strobel vermutet, dass der aktuelle Sandstein, der übrigens infolge von Zerfallserscheinung im Altarraum ersetzt werden muss, aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vielleicht kann sich der Fachmann vom Archäologischen Landesamt einen Reim darauf machen, wenn er demnächst kommt.

Die neue Gasheizung für St. Marien wurde 2017 mit rund 220 000 Euro veranschlagt. Mittlerweile sind die Lohn- und Materialkosten gestiegen. „Wir können sie uns nur anschaffen, weil Leader 70 Prozent der Summe finanzieren will“, erklärt Klaus Strobel. Zur Erinnerung: Die Europäische Union unterstützt seit 1991 mit dem Programm Leader modellhafte Projekte im ländlichen Raum in Sachsen-Anhalt.

In der Marienkirche werden vier in den Boden eingelassene Konvektoren sowie Heizkörper unter den Fenstern eingebaut. Im Altarbereich wird zudem eine Fußbodenheizung installiert.

Bis in die 1970er-Jahre funktionierte in der Marienkirche eine Dampfheizung mehr schlecht als recht. Sie war 1881 eingebaut worden. Alte Zeitungen, die zur Schalung von Betonplatten verwendet wurden, kündeten davon. Wie die Chronik von 1913 weiß, wurden damals beim Einbau „verschiedene Grabgewölbe berührt“.