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Konzert-CD Der fast Vergessene ist eingespielt

Die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie präsentiert in Ballenstedt ihre neue CD mit Werken von Carl Christian Agthe.

Von Ulrich Meinhard 04.12.2017, 19:38

Ballenstedt/Schönebeck l Was ist das für Musik? Ein kalter Abend hat sich an diesem 1. Dezember über Ballenstedt gesenkt. Ein Musikliebhaber irrt durch die für ihn unbekannten engen Straßen der kleinen Stadt am Harzrand. Die Nicolaikirche ist hell erleuchtet. Eigentlich will der Musikfreund zum gerade eröffneten, nahegelegenen Weihnachtsmarkt. Aber diese Musik, die aus dem Gotteshaus dringt, nimmt ihn gefangen. Er kennt sich aus mit klassischen Kompositionen. Aber welcher alte Meister wird denn da gespielt? Ist das Mozart? Oder doch Händel? Nein, wohl eher Jean-Philippe Rameau. Aber ist da nicht ein Motiv von Vivaldi? Wird hier ein neu entdecktes Werk des italienischen Meisters intoniert?

Diese schnellen Tonläufe – dann wieder dieses Verhaltene... Hier diese Schwermut, dann das leuchtend Erhabene. Und im zweiten Satz diese Verspieltheit, diese Fröhlichkeit! Ein Aufjauchzen, als würde ein Kinderlied variiert... Und dann dieses Schluchzen der Geigen – wie aus einem Hollywoodfilm...

Der frierende Musikfreund betritt die vollbesetzte Kirche. Was er am Eingang erfährt: Hier musiziert die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie aus Schönebeck unter Leitung ihres Chefdirigenten Gerard Oskamp. Das Werk, das er hört, ist ein Flötenkonzert von Carl Christian Agthe. Der Musikfreund grübelt. Agthe? Er ist sich nicht sicher, ob er diesen Namen schon einmal gehört hat. Doch er hat Glück. Er findet einen Platz neben Siegfried Hünermund. Der Musiklehrer kann fundiert aufklären.

Carl Christian Agthe, geboren im Juni 1762 in Hettstedt, gestorben bereits mit 35 Jahren am 27. November 1797 in Ballenstedt, also fast auf den Tag vor 220 Jahren, war ein damals bekannter Organist und Cembalist. Komponiert hat er auch – aber eher als Hobby. Er galt als der Mozart des Harzes. Und geriet nach seinem Tod in Vergessenheit.

Das heißt, so völlig vergessen war er nicht, schätzt Siegfried Hünermund ein. Er selbst hat bereits zu DDR-Zeiten Musikliteratur von Agthe in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufgespürt. Einige der Kompositionen sind allerdings verloren gegangen. Agthe, der auch Balladen von Gottfried August Bürger und weiteren Dichtern vertont hat, ist bereits mehrfach in Ballenstedt zu Gehör gebracht worden. Der Autor Frank Rebitschek hat sogar einen zweibändigen Roman über Agthe geschrieben.

Gerard Oskamp ist vor einigen Jahren von seinem Vorgänger im Amt des Chefdirigenten der Mitteldeutschen Kammerphilharmonie, Christian Simonis, auf Agthe aufmerksam gemacht worden. Simonis hatte angemerkt, dass sich eine Beschäftigung mit dessen Werken lohne. „Er hat nicht übertrieben“, beteuert Oskamp. Zusammen mit den Musikern hat er im September eine CD mit Werken von Carl Christian Agthe eingespielt. Diese CD soll heute in Ballenstedt mit diesem Konzert vorgestellt werden. Dumm ist nur - die CD liegt nicht vor. „Das CD-Presswerk hat uns im Stich gelassen“, bedauert die Geschäftsführerin der Mitteldeutschen Kammerphilharmonie, Anita Bader. Doch sie bietet an: „Wem die Musik gefallen hat, der kann eine Vorbestellungskarte ausfüllen.“ Die CD werde dann so schnell wie möglich zugeschickt. Immerhin kann festgehalten werden: Diese Einspielung ist die erste mit Werken von Agthe.

„Ich kann nur dazu ermuntern, diese CD zu erwerben“, ermuntert der Staatssekretär im sachsen-anhaltischen Kultusministerium, Gunnar Schellenberger (CDU). Das Land hat die Produktion, die mit rund 25.000 Euro zu Buche schlägt, zu 40 Prozent gefördert. Die restlichen 60 Prozent sind Eigenmittel der Kammerphilharmonie. Die Auflage beträgt 1500 Stück, zu erwerben sind die Tonträger im Orchesterbüro in der Schönebecker Tischlerstraße 13a, Telefon (03928) 40 06 90 oder per Email an post@mkp-sbk.de. Also demnächst dann mal.

Doch zurück zur Hauptperson des Abends, zu Agthe. Der trat im Jahr 1782 das Amt des Hoforganisten und Hofkapellmeisters am Hof des Fürsten zu Anhalt-Bernburg an. Der damalige Fürst Friedrich Albrecht zu Anhalt-Bernburg wurde sein musikalischer Förderer.

Anwesend sind heute in der Ballenstedter St.-Nicolai-Kirche seine Hoheit Eduard Prinz von Anhalt – Oberhaupt des Fürstengeschlechts der Askanier – sowie sechs Prinzessinnen, ein Prinz und ein Herzog. Das versichert Karl-Heinz Meyer. Er ist Ballenstedter Stadtrat und ein Freund der blaublütigen Familie. Die will die Bedeutung von Ballenstedt, insbesondere des Ballenstedter Schlosses, die eigentliche Wiege der Herzöge von Anhalt, wieder deutlich aufwerten. Der gebürtige Ballenstedter Eduard Prinz von Anhalt - er musste 1945 als Vierjähriger mit seiner Familie fliehen - kennt Agthe bis zu diesem Abend nicht. Von der Musik ist er angetan. Er wundert sich, dass sie quasi in Vergessenheit geraten konnte. „Es werden heute so viele Komponisten gespielt, die meiner Meinung nach nicht so gut sind“, wägt er ab.

Nachdem der Prinz Gerard Oskamp händeschüttelnd für dieses außergewöhnliche Konzert gedankt und mit etlichen Leuten ein Schwätzchen gehalten hat, will er mit seinen Töchtern noch auf den Weihnachtsmarkt.

Stehende Ovationen nach dem Konzert, dann leert sich die Nicolaikirche. Pfarrer Theodor Hering, der den Abend anmoderiert hatte, ist sich sicher: Diese Ehrung für den fast vergessenen Carl Christian Agthe ist angemessen ausgefallen.

Was gibt es noch hinzuzufügen? Alles an dieser Geschichte ist wahr. Nur den umherirrenden Musikfreund, den hat es – vermutlich – nicht gegeben.