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Schwerer Unfall Hilfe in den schwersten Stunden

Ein Kind und sein Großvater sind bei dem Unfall bei Pömmelte gestorben. Wie eine Beteiligte den Unfall wahrgenommen hat.

Von Emily Engels 07.11.2018, 00:01

Glinde/Pömmelte l Der silberne Kleintransporter rast direkt auf Judy Weinhardts Auto zu. „Vielleicht merkt er es noch“, kann die 59-jährige Frau aus Glinde gerade noch denken. Doch dann ist es schon zu spät. Die Autos stoßen frontal zusammen und werden auf ein Feld neben der Straße geschleudert.

Kurz nach dem Zusammenstoß fühlt sich Judy Weinhardt wahnsinnig allein. Eingeklemmt in einem Auto, das ihr wegen der ausgelösten Airbags irgendwie fremd vorkommt. Mit dem Brand-Geruch, der ihr in die Nase steigt, kommt die Panik. Ihr Instinkt sagt ihr, so schnell wie möglich zu flüchten. Doch das gelingt ihr nicht. Ihren rechten Arm kann sie weder sehen noch spüren. Doch noch schlimmer hat es ihr linkes Bein erwischt. Das ist unter dem Lenkrad eingeklemmt. Ein Entkommen ist praktisch ausgeschlossen.

Judy Weinhardt hat an diesem sonnigen Juli-Nachmittag einen Arzttermin in Schönebeck. Sie geht noch kurz beim Fleischer einkaufen und macht sich dann auf den Heimweg nach Glinde.  Kerstin Brösel fährt schon ab Schönebeck die ganze Zeit hinter ihr. „Während der Fahrt dachte ich über ihr Auto nach, weil ich zu dem Zeitpunkt überlegt habe, mir das gleiche Modell zu kaufen“, erzählt die 60-jährige Tornitzerin von den unbeschwerten Gedanken, die ihr da noch durch den Kopf gehen.  Wenige Minuten später kracht es. Kerstin Brösel sieht, wie die Autos durch den Zusammenprall von der Straße geschleudert werden und bremst ab. Sie will Hilfe rufen, doch ihre Finger wissen plötzlich nicht mehr, wie sie ihr Handy bedienen sollen. Sie steigt aus ihrem Auto und bittet andere Menschen, die anhalten, einen Notarzt zu rufen.

Kerstin Brösel will Judy Weinhardts Auto öffnen. Erst probiert sie es über die Beifahrertür. Doch als die nicht aufgeht, öffnet sie die Fahrertür – und hilft der Verletzten so gut es geht nach draußen. Tröstende Worte Allein hätte sie das allerdings nur schwer geschafft. Doch auch Sieghard Hüls aus Pömmelte ist mittlerweile am Unfallort. Der 55-Jährige hilft Kerstin Brösel, die schwer verletzte Frau aus dem Auto zu bergen. Judy Weinhardt liegt im trockenen Gras und durchsteht furchtbare Schmerzen, während sie auf den Notarzt wartet. Direkt an ihrer Seite sieht sie Kerstin Brösel in ihrem roten Kleid mit den weißen Punkten – eines von vielen Details, an die sich Judy Weinhardt noch erinnern kann. Kerstin Brösel hält der Verletzten die Hand, weicht nicht von ihrer Seite. Sie spricht ihr beruhigende Worte zu, sagt, dass ein Notarzt unterwegs ist. Die beiden Ersthelfer sagen ihr zu dem Zeitpunkt nicht, dass sie eine tiefe offene Wunde am Bein hat.

Judy Weinhardt nimmt wahr, dass eine weitere Helferin, eine Frau mit Sonnenbrille, einen Schirm hält, um sie vor der knallenden Sonne zu schützen. Was sie nicht mitbekommt, ist das Drama, das sich rund um das andere voll besetzte Unfallfahrzeug abspielt. Tragische Momente Ihre beiden Ersthelfer bekommen das sehr wohl mit. Sieghard Hüls erzählt davon, wie er mit Werkzeug aus seinem Auto die klemmende Schiebetür des verunglückten Transporters aufstemmt. Zwei Männer, die ebenfalls angehalten haben, helfen ihm dabei.  Es folgen tragische Momente, von denen der Mann aus Pömmelte auch heute, vier Monate später, nur ungern spricht. Es sind Eindrücke, die er lieber für immer aus seinem Gedächtnis gelöscht wüsste. Deshalb erzählt er davon auch nur bruchstückhaft. Er spricht von dem schwerverletzten vierjährigen Jungen, der noch am Unfallort stirbt. Und von dessen sechsjährigen Bruder, der ebenfalls verletzt ist, aber überlebt. Und er erzählt, dass er auf den Großvater der Kinder, der noch in der Nacht an seinen schweren Verletzungen sterben wird, einredet, damit der wach bleibt. „Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Sie können jetzt nicht einschlafen."

Erst, als Judy Weinhardt ins Krankenhaus nach Dessau gefahren wird, verlassen auch ihre Ersthelfer die Unfallstelle. Kerstin Brösel erzählt davon, dass sie sich von ihrem Mann abholen lässt. Sie sei aufgrund ihres Schocks nicht in der Lage, sich selbst ans Steuer zu setzen, sagt ihr damals eine Polizistin.  Sieghard Hüls fährt selbst zurück nach Hause, merkt aber erst dort angekommen, dass er an der Schulter blutet. Er muss sich wohl an einer zerbrochenen Scheibe verletzt haben. „An dem Tag habe ich einfach gemacht, ohne nachzudenken“, sagt er heute. Und ergänzt dann, dass er natürlich jedesmal wieder helfen würde, ohne zu zögern.

Einige Monate später, an einem kühlen Oktoberabend, sitzen Judy Weinhardt, Kerstin Brösel und Sieghard Hüls zusammen. Nervös halten die drei ihre Kaffeetassen fest und lassen den Tag des Unfalls Revue passieren. „Ich war heute schon den ganzen Tag aufgeregt“, gibt Sieghard Hüls zu. Judy Weinhardt und Kerstin Brösel nicken.  Dabei ist die Tatsache, dass es Judy Weinhardt wieder besser geht, für die beiden das allergrößte Geschenk. „Mich haben andere Menschen auf dem Dorf immer auf dem Laufenden gehalten, wie es dir geht“, sagt Sieghard Hüls und lächelt ihr warm zu. „Aber dass du das schaffen würdest, daran habe ich nie gezweifelt.“

Während die beiden sich schon flüchtig kannten, hat Judy Weinhardt Kerstin Brösel über die Polizei ausfindig gemacht. Da sie als erste am Unfallort war, muss sie beim anstehenden Gerichtsprozess als Zeugin aussagen. Dass Judy Weinhardt an dem Tag vernünftig gefahren ist, dass sie immer auf ihrer Spur geblieben ist, dem sind beide sich ganz sicher.  Schon nach einer halben Stunde wirken Judy Weinhardt, Kerstin Brösel und Sieghard Hüls so vertraut, als würden sie sich schon ewig kennen. Wenn man so eine Extremsituation gemeinsam durchgestanden habe, dann schweiße das zusammen, ist man sich einig.  Doch darüber zu sprechen, fällt allen noch immer unglaublich schwer. Sieghard Hüls sagt, dass er sich früher immer für jemanden gehalten habe, der hart im Nehmen ist, den nichts schocken kann. Das habe sich an dem Tag geändert. Kerstin Brösel nickt. Sie weiß zu gut, wovon er spricht. Man habe Angst gehabt, dass man etwas Falsches macht, sagt Sieghard Hüls weiter. Judy Weinhardt beteuert, dass sie ganz sicher ist, dass sie alles genau richtig gemacht haben.

Judy Weinhardt würde am liebsten noch all den anderen Helfern persönlich danken, die an dem Tag für sie da waren. Um die Helfer zu erreichen, schreibt sie bereits ein paar Wochen nach dem schweren Unfall an die Volksstimme. Folgende Sätze werden veröffentlicht: „Ich bin ein Opfer von dem schweren Unfall vom 19. Juli (...) Auf diesem Wege möchte ich allen Ersthelfern sowie dem Rettungsteam meinen allergrößten Dank aussprechen. Es war für mich ein so glücklicher Moment in den schwersten Stunden meines Lebens, dass so viele Menschen mit beruhigenden und lieben Worten und einem Schluck Wasser an meiner Seite waren. Als Unfallopfer kann ich jetzt aus eigener Erfahrung sagen wie wichtig es ist, in einem solchen Moment nicht allein zu sein. Viele liebe Grüße an meine Retter und ich kann euch sagen: Ich bin auf dem Weg der Genesung.“ Worte, die Kerstin Brösel sehr geholfen haben, den Vorfall zu verarbeiten, sagt sie dankbar. Und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ja, darüber heute zu sprechen, falle tatsächlich überhaupt nicht leicht.

Sie wünscht sich, dass auch Helfern nach einem solchen schweren Unfall besser geholfen wird. „Das hat mir gefehlt“, sagt sie heute. Sie habe – genau wie Judy Weinhardt und Sieghard Hüls – noch immer Schwierigkeiten, das Geschehene zu verarbeiten. Aufruf zum Helfen Warum die drei dennoch über den Unfall sprechen? Weil sie Menschen dazu aufrufen wollen, nicht wegzusehen oder weiterzufahren, wenn jemand Hilfe braucht. Weil die beiden Ersthelfer sich wünschen, dass auch ihnen in größter Not geholfen wird. Weil sie glauben, dass in der heutigen Gesellschaft Zwischenmenschlichkeit und ein Miteinander wichtiger sind denn je.  Aber auch, weil sie warnen wollen. Davor, dass eine Autofahrt gefährlich oder gar tödlich enden kann, wenn man sich betrunken ans Steuer setzt, abgelenkt ist oder schneller fährt, als es erlaubt ist.

Judy Weinhardt weiß, dass sie vergleichsweise mit einem blauen Auge davongekommen ist – und dafür ist sie dankbar. Nach fünf Wochen Reha kann sie wieder laufen. Doch geheilt ist sie noch längst nicht. Da sind die Schrauben in Knie und Schulter, die erst in einem Jahr rausgenommen werden. Und da sind die noch immer starken Schmerzen in Arm und Rücken, die sie trotz Medikamente seit dem Unfall nicht eine einzige Nacht haben durchschlafen lassen.  Doch noch viel länger wird es dauern, bis ihre Seele geheilt ist. Denn neben der unendlichen Dankbarkeit für ihre Helfer und dafür, dass sie überlebt hat, ist da die Wut. Die Wut auf den Mann, der betrunken samt Familie in sein Auto gestiegen ist. Die Wut darauf, dass ihr viele Alltäglichkeiten wie das Zähneputzen oder das Schuhe-Anziehen noch immer so große Schwierigkeiten bereiten. Die Wut darüber, dass es Dinge wie das Reiten und Skifahren gibt, die sie vermutlich nie wieder in ihrem Leben machen kann. 

Doch zum Glück überwiegt am häufigsten die Dankbarkeit. Die Dankbarkeit dafür, dass es Menschen wie Kerstin Brösel, Sieghard Hüls und die anderen Helfer gibt, die ihr in dem schwersten Moment ihres Lebens das Gefühl gegeben haben, nicht allein zu sein. Und die Dankbarkeit dafür, dass sie leben darf. „Eigentlich“, sagt Judy Weinhardt und schaut ihre Ersthelfer lächelnd an, „ist der 19. Juli mein zweiter Geburtstag“.