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Weihnachten Herr Nuss von Knackershausen

Eine Geschichte aus Barby erzählt von einem über 30 Jahre alten Nussknacker, der trotz Unvollkommenheit noch heute geliebt wird.

Von Thomas Linßner 26.12.2018, 06:00

Barby l Wir schreiben das Jahr 1986. Es ist Anfang Dezember, das trübe Wetter verbreitet kaum weihnachtliche Vorfreude. Hin und wieder nieselt es aus bleigrauen Wolken, die über dem Elbe-Saale-Winkel wie fest genagelt hängen. Die Menschen haben ihre Wohnungen weihnachtlich dekoriert. Jedenfalls so gut es geht. Die Innendekoration beschränkt sich auf beleuchtete Schwibbögen, Adventskränze oder Herrnhutersterne. Letztere gibt es hin und wieder im Gnadauer Laden, der einen direkten Kontakt zur Produktionsstätte in der Lausitz hat. Sie sind „Bückware“, wie der DDR-Mensch Waren nennt, die infolge Knappheit gern unter dem Ladentisch gelagert werden.

Kein Mangel herrscht dagegen an Räucherkerzchen. Man kauft sie in der Drogerie am Barbyer Rathaus. Hier steht ein freundlicher Weihnachtsmann aus Pappmaché im Schaufenster, der fortwährend mit dem Kopf nickt. Der alte Knabe verbreitet etwas Positives. Der Drogist bemüht sich, den kleinen Kramladen mit einem Hauch Weihnachtlichkeit zu überziehen. Bis unter die Decke stapeln sich auf rund 20 Quadratmetern vom Waschpulver, über Mondos-Kondom bis hin zum Traubenzuckerdrops aus dem Barbyer Maisanwerk. Silvester gibt es Feuerwerk, das alle Jahre wieder ruck zuck ausverkauft ist.

In der Drogerie regiert der Meister aller Bückwaren. Gibt es Weihnachtsbaumkugeln aus Lauscha, raunt er dies wohl gelittenen Kunden mit beinahe konspirativer Geste ins Ohr. Wen er nicht leiden kann, der geht leer aus. Hier – wie im gesamten Land – ist nicht der Kunde König, sondern der Verkäufer. Man hat sich daran gewöhnt, wenn auch mit geballter Faust in der Tasche.

Die evangelische Kirchengemeinde versucht den öffentlichen Raum im Sinne der Weihnachtsbotschaft zu dekorieren. Wo ginge das besser, als über den Dächern der Stadt. Auf dem 47 Meter hohen Marienkirchturm werden seit den 1970er Jahren im Advent zwei Weihnachtsbäume aufgestellt, an denen Elektrokerzen leuchten. Ein schönes Bild. Sie grüßen weit ins Land.

 

Heimelig soll die Vorweihnachtszeit sein. Besonders, weil die Kinder noch klein sind und die Eltern wissen, dass diese Zeit nie wieder kommt. Zwar sorgt der Opa alle Jahre wieder für Kiefernreisig für den Adventskranz, wofür er extra mit dem Fahrrad nach Walternienburg radelt, um es zu schneiden. Die Oma organisiert für das Fest Rinderfilet, weil sie den Chef eines Schlachtbetriebs in Staßfurt kennt.

In dem kleinen Haus am Stadtrand von Barby leuchtet ein Herrnhuterstern in der Küchenecke; aus dem Mund des selbst gedrechselten Räuchermännchens verbreitet sich der angenehme Duft einer schwarzen Weihrauchkerze. Mangel an Wal- oder Haselnüssen herrscht nicht. Sie werden mit einem eisernen Ding geknackt, das noch aus den 1920er Jahren stammt. „Mein Freund René hat einen richtigen Nussknacker. So einen aus Holz mit einem Hut auf dem Kopf und einem Schwert im Gürtel“, bemerkt der siebenjährige Sohn des Hauses. „Warum haben wir denn keinen?“

Diese Frage stand fortan wie ein Vorwurf im Raum. Es war nicht das erste Mal, dass der pfiffige Knabe derartige Vergleiche anstellte. Als er eines Tages mit seinem Vater durch den Intershop in Magdeburg schlenderte, sprangen ihm die vielen Matchbox-Autos ins Auge. Wobei sich folgender Dialog entspann: „So eins möchte ich zum Geburtstag haben. Bitteeee!“ „Dafür habe ich kein Geld“, wich der Vater aus, ohne zu erklären, dass es ihm lediglich an der erforderlichen „frei konvertierbaren Währung“, wie man damals sagte, mangelte. Doch er hatte die wunderbare kindliche Logik unterschätzt. „Aber du arbeitest doch!!!“, konterte der Knabe vorwurfsvoll.

Nun also ein Nussknacker. Diese Spezies erzgebirgischer Holzschnitzkunst zählte ebenfalls zur „Bückware“ und war unverschämt teuer. Jedenfalls war es der jungen Familie noch nicht gelungen, so einen bärbeißigen Kameraden zu ergattern. Es begab sich aber zu der Zeit, dass der Vater als Monteur in Thüringen arbeitete. Und ebenda gab es wie im benachbarten Erzgebirge Zeitgenossen, die in ihrer Freizeit drechselten. So auch ein geschäftstüchtiger Kollege des Vaters aus Stützerbach, der neben allerlei Glasgeblasenem auch „Männeln“ auf die Welt half. „Du musst mir helfen“, bat der Vater, „unser Großer wünscht sich unbedingt einen Nussknacker.“ „Weißt du, wie lange meine Kunden darauf warten müssen!?“, rollte der Thüringer vorwurfsvoll mit den Augen. „Ich arbeite gerade die Bestellungen vom Sommer ab!“

Nach einigen Runden geistiger Gratisgetränke abends in der Kneipe und dem geschickt wie zufällig bemerkten Hinweis, einen kleinen Jungen glücklich machen zu wollen, willigte der Feierabenddrechsler schließlich ein. Für 20 DDR-Mark wechselte wenige Tage später ein ganz passabler, knallroter Nussknacker den Besitzer. Trotz thüringischer Heimarbeit konnte er es mit den erzgebirgischen Originalen locker aufnehmen. Er funktionierte, die Proportionen stimmten halbwegs, ein kaiserliches Bärtchen zierte keck die Oberlippe, Epauletten auf den Schultern kündeten von einem Offiziersrang. Nach dem Motto „Herr Nuss von Knackershausen“. Nur der Hut, mit seiner halbseitig ins Gesicht gezogenen forschen Krempe, machte etwas stutzig. „Nun verrate mir mal“, bohrte der Vater, „Woraus hast du denn den Hut gemacht?“ Der heimwerkende Kollege grinste schelmisch. „Das ist ein Joghurtbecher, den ich schwarz lackiert habe.“ Auch das Schwert, der Gürtel oder die Zierstreifen auf der Uniform, kündeten vom Einkauf im Haushaltwaren-Konsum.

Der Nussknacker wird heute, mehr als 30 Jahre später, noch immer in der Vorweihnachtszeit in dem kleinen Haus am Barbyer Stadtrand aufgestellt. Er ist Kult. Was uns zeigt, dass die Dinge nicht immer perfekt und teuer sein müssen, die uns ans Herz gewachsen sind.