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Weihnachtsgeschichte Das Trost spendende Märchenbuch

Ein Buch mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von 1935 wird in Barby immer Weihnachten aus dem Regal geholt.

Von Thomas Linßner 25.12.2020, 00:01

Barby l Dezember 1944. Der elfjährige Dieter sitzt auf seinem Bett und schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Er hat ein Loch in die Scheibe gehaucht, die einen Eisblumenpanzer trägt. Dicke, weiße Schneeflocken wirbeln durch die früh einsetzende Dunkelheit. Unter ihm hört der Junge immer mal wieder die Ladenglocke. Sie macht melodisch kling, klang, klong, wenn ein Kunde die Tür des kleinen Kolonialwarenladens öffnet. Oft geschieht das in diesen kalten Dezembertagen nicht. Es herrscht Mangel, das täglich’ Brot wird über Lebensmittelkarten zugeteilt. Der Krieg ist nach Deutschland zurück gekehrt, seit Sommer rücken die Alliierten in Frankreich vor. Auch aus den deutschen Ostgebieten kommen die ersten Flüchtlinge. Die Rote Armee hatte im Oktober 1944 erstmals deutschen Boden betreten. Ostpreußische Flüchtlinge beginnen, in Richtung Westen aufzubrechen.

Dieter stammt aus Magdeburg. Die Stadt ist als „Luftschutzort 1. Ordnung“ eingestuft. Und das aus gutem Grund: Größter Betrieb ist das Grusonwerk in Buckau, wo diverse „Sonderkraftfahrzeuge“ wie der Panzer I, Panzer IV und das Sturmgeschütz IV gebaut werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf die Stadt Bomben fallen werden, ist sehr groß. Die „Reichsdienststelle Kinderlandverschickung“ evakuiert deswegen Kinder aus gefährdeten Städten in „luftsichere Gebiete“. Dafür werden auf dem Land Lager eingerichtet, aber auch Mutter-und-Kind-Verschickungen organisiert.

Doch Dieter betrifft weder das eine, noch das andere. Er kommt mit ein paar Gleichaltrigen in einer der Barbyer Pflegefamilien unter. Sie befindet sich im Magdeburger Tor. In den Parterreräumen des Mehrfamilienhauses gibt es einen Lebensmittelladen. Im Hinterhaus grunzen Schweine im Stall, eine Schar lustiger Hühner sorgt für Eiernachschub.

Der Hausvater und Geschäftsinhaber ist ein großer Mann mit Glatze und Kaiser-Wilhelm-Bart, der hin und wieder in Uniform erscheint. Es ist jedoch keine der feldgrauen, braunen oder gar schwarzen Uniformen, wie Dieter sie aus Magdeburg kennt. Gustav W. ist Ortswehrleiter der freiwilligen Feuerwehr. Zwar hisst sein Haus am 1. Mai, dem Tag der nationalen Arbeit, die Hakenkreuzfahne - in der NSDAP ist er jedoch nicht. Gustav W. hat mit den Nationalsozialisten nicht viel am Hut. Seine Funktion als Feuerwehrchef erfordert jedoch eine gewisse Loyalität und Dienstpflicht. Ehefrau Johanne ist die Chefin im Laden, den Gustav eher als notwendigen Broterwerb sieht. Seine Leidenschaft gehört nicht dem Handel, sondern der Feuerwehr.

Von alledem weiß der elfjährige Dieter nichts. Er geht in Barby zur Schule, bekommt hin und wieder Besuch von seiner Mutter aus Magdeburg, die ihm frische Wäsche und ein paar der rar gewordenen Himbeerbonbons bringt. Dieters Schatz, der sein Heimweh ein wenig lindert, ist jedoch das dicke, grüne Märchenbuch. Es sind die „Kinder und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, die Dieter zum zehnten Geburtstag bekam. Das Buch wiegt stolze 1,3 Kilogramm und hat 855 Seiten. Der goldgeschnittene Leineneinband zeigt auf dem Titel den Froschkönig. Innen hat der Dresdener Künstler Ludwig Richter einige Märchen illustriert. Dieters Lieblingsmärchen ist das vom Meisterdieb, der witzig und schlitzohrig Aufgaben erledigt, die die kindliche Fantasie beflügeln. Der kleine Junge will sich krumm und lahm lachen, wenn es der Meisterdieb fertig bringt, dass Küster und Pfarrer in einen Sack steigen, um dem jüngsten Gericht zu entfliehen. Als der Dieb die beiden über den Kirchturmboden schleift, wo die Tauben flattern, sagt der, dass es die Engel seien, die vor Begeisterung mit den Flügeln schlagen. Wenn der Elfjährige Märchen wie dieses liest, das vor über einhundert Jahren aufgeschrieben wurde, ist die Welt in Ordnung.

Weihnachten 1944 bringen es Dieters Eltern fertig, den Jungen nach Magdeburg zurück zu holen. Weil die Gefahr der Bombenangriffe immer größer wird und auch das nahe Barby nicht mehr sicher erscheint, wird der Junge Anfang 1945 zu Verwandten in den Harz gebracht, wo er bis Mai bleibt. Eine Maßnahme, die sich als richtig erweist. In der Nacht des 16. Januar 1945 kommt es zu einem verheerenden Luftangriff auf Magdeburg, bei dem große Teile der alten Stadt in Schutt und Asche versinken und tausende Menschen sterben.

Das Märchenbuch bleibt in Barby. Es wird von den Enkel- und Urenkelkindern der Familie W. wie ein Schatz gehütet. Als Dieter, der mittlerweile als Arzt Karriere gemacht hat, 1985 als Überraschungsgast der alten Frau Johanne W. zum 100. Geburtstag gratuliert, fragt sie ihn, ob er nach 40 Jahren sein altes Märchenbuch wieder haben möchte. Ihre Enkel zucken bei diesem Angebot erschrocken zusammen: Das grüne Märchenbuch weg geben? Mittlerweile ist es Bestandteil der Barbyer Familie geworden.

Doch Dr. Dieter lehnt das Angebot lächelnd ab.

Gott sei Dank.