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Wende Pfarrer erzählen über Demo im Herbst 1989

Vor 30 Jahren gingen Tausende Schönebecker zum ersten Mal auf die Straße, um für Freiheit und Reformen zu demonstrieren.

Von Olaf Koch 08.11.2019, 02:09

Schönebeck l Geändert hat sich nicht viel. Als sich die Volksstimme mit den Pfarrern im Ruhestand, Ulrich Lieb und Günther Schlegel, in Magdeburg trifft, packt Schlegel einen dicken Hefter mit Unterlagen auf Tisch. Darin unter anderem jede Menge Anträge, Erklärungen und Genehmigungen an Polizei und Ämter. Schon 1989 in der DDR musste auch die „Wende“ sehr deutsch angeschoben werden.

Ulrich Lieb und Günther Schlegel sowie der inzwischen verstorbene dritte Pfarrer in der Runde, Hans Gottschalk, sind diejenigen, die vor 30 Jahren den Mut haben, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Mit Lieb und Schlegel trifft sich die Volksstimme, legt ihnen Volksstimme-Ausgaben von 1989 vor und bittet die Altpfarrer, sich an die Zeit von damals zu erinnern.

War die letzte Kommunalwahl das Anfang vom Ende? Vermutlich nicht, denn nach Ansicht der beiden Pfarrer war das Ende der DDR schon länger eingeläutet. „Die Wahlfälschung von damals hat das Fass aber zum Überlaufen gebracht“, so Lieb. Er berichtet davon, dass die Menschen schon lange Zeit unzufrieden waren und nicht erst seit der Wahl. „Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass der damalige Kreis Schönebeck nie ein Wahlergebnis von damals öffentlich bekanntgegeben hat?“, fragt Lieb. Auch für Günther Schlegel steht fest: Die DDR war am Ende, vor allem wirtschaftlich.

Drei Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR ist die kleine Welt in Schönebeck noch „sozialistisch in Ordnung“, wie Ulrich Lieb feststellt, als er den Artikel liest. „Es war damals eine komische Stimmung: wie eine von oben befohlene Friedhofsruhe, obwohl scheinbar jeder zweite schon über andere Wege das Land verließ“, erzählt Schlegel. In diesem Tagen beginnen in den Bezirksstädten der DDR die Montagsdemonstrationen. Auch die drei Pfarrer sind mit dabei, als Fürbitten der Menschen geäußert werden. „Als ich im Oktober mit im Dom saß, rief jemand aus der Menge: ‚Ich wünsche mir, dass es in Schönebeck auch losgeht.‘ Das war für uns wie eine Aufforderung zu verstehen“, sagt Lieb heute.

Bewusst haben die drei Pfarrer den Donnerstag für das Friedensgebet mit Schweigemarsch gewählt. Die Veranstaltung in Schönebeck sollte nicht in Konkurrenz zu Magdeburg stehen. „Wir wollten den Menschen ermöglichen, sowohl in Magdeburg als auch in Schönebeck teilzunehmen“, resümiert Ulrich Lieb.

Im Hinterkopf an diesem Abend haben Gottschalk, Lieb und Schlegel die Bilder aus Peking, wo Monate zuvor auf dem Tian‘anmen-Platz blutig die chinesische Demokratiebewegung niedergeschlagen wird. „Das wollten wir hier verhindern. Wir wollten keine ‚chinesische Lösung‘“, erzählt Schlegel. Deshalb wird zu einem Schweigemarsch aufgerufen, zu Stille, Kerzen und Gewaltlosigkeit.

In den Fürbitten zuvor in der Marienkirche geht es den Menschen vor allem um Reisefreiheit, die Auflösung der Staatssicherheit, ein verändertes Bildungswesen, Redefreiheit und Reformen.

An diesem Tag melden sich die drei Pfarrer als Veranstalter zu Wort. Ihnen geht es vor allem darum zu sagen, dass sich keiner der gesprochenen Texte in der Kirche auf dem „Boden des Sozialismus“ bewegte.

Ein Sprecher des Neuen Forums meldet sich öffentlich zu Wort. Er möchte mitteilen, dass die SED nicht den alleinigen Führungsanspruch hat, sondern andere Parteien gleichberechtigt sind. Mit dem Ruf: „Wir sind das Volk“ wird kollektiv geäußert, eine sozialistische und demokratische DDR zu schaffen. Darüber kann Ulrich Lieb nur Lächeln. „Ich kann das verstehen. Aber das ist aus heutiger Sicht eine Illusion gewesen.“

Die Volksstimme meldet mit Text und Bild, dass die Schönebecker Zentrale der Staatssicherheit geräumt wird. Polizisten nehmen Pistolen, Maschinenpistolen, Munition und Magazine aus der Waffenkammer mit. Alles wird demnach auf Lkw verladen und zu sicheren Verwahrung gebracht.

Unter den Kulturnotizen in der Ausgabe vom 10. Mai 1989 wird ein Film im Schönebecker Kino „Astoria“ angekündigt. Dabei geht es um die Apartheid in Südafrika und um den Kampf der Menschen, ihre Fesseln zu sprengen. Der Titel: „Schrei nach Freiheit“. Südafrika ist Anfang Mai 89 damit schon weiter als die DDR.