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Zeitgeschichte Kriegsschrott noch immer im Waldboden

Ein Sondengänger aus Barby fand nahe Walternienburg Kriegsschrott aus dem Zweiten Weltkrieg. Es handelt sich um deutsche Ausrüstungsteile.

Von Thomas Linßner 15.11.2017, 00:01

Barby/Walternienburg l „Ich habe mir eine alte militärische Lagekarte des 329. US-Infanterieregimentes besorgt und die Orte der Angriffsoperationen per Google Earth auf heutige Karten übertragen“, sagt Wolfgang Götze (Name geändert). Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Volksstimme lesen. „Damit ich als gelegentlicher Sondengänger nicht in einem Topf mit solchen Leuten wie bei der Himmelsscheibe geworfen werde!“, stellt er klar. Diese Übertragung historischer Karten auf heutige satellitengestützte Verortung ist schon mal pfiffig. Denn auf diese Weise weiß man genau, wo Kampfhandlungen stattfanden, wo Truppen lagerten. (Alte Zeitzeugen können sich noch daran erinnern, dass zwischen Walternienburg und Güterglück mehrere deutsche Sturmgeschütze im Wald vor sich hin rosteten.) Ohne dieses Wissen fand Wolfgang Götze diese Orte verblüffender Weise anhand der Karten.

Mit Hilfe seines Metalldetektors wurde er schnell fündig. Die heute verfügbaren, leistungsfähigen Metalldetektoren ermöglichen es auch Privatleuten mit begrenzten Mitteln sehr schnell zu erkennen, ob und wann in einem Areal historische Aktivitäten stattgefunden haben. Der althergebrachten, im Wesentlichen visuellen Suche, wurde damit eine sehr leistungsfähige zweite Prospektionsmethode zur Seite gestellt.

Der Barbyer Sondengänger fand in einem Kiefernwäldchen Kriegsschrott, der überwiegend eindeutig der Wehrmacht zuzuordnen ist: Stahlhelm, zwei Bajonette, Überreste von Karabinern, Fragmente von Pistolen oder einen Feldspaten. „Das sieht nach hastig weggeworfenem Gerät aus“, sagt Götze.

Was so ganz und gar nicht in dieses Sammelsurium passt, ist die rostige Schulterstütze einer britischen Sten-Maschinenpistole, die als schlicht, aber sehr robust galt. Zunächst als „zu primitiv“ abgestempelt und eingelagert, wurden die Waffen Ende 1943 auf Grund des akuten Waffenmangels an deutsche Truppen ausgegeben. Vielleicht gelangte die MPi so nach Walternienburg.

Was sich in den letzten Apriltagen des Jahres an den Brückenköpfen Barby und Zerbst abspielte, soll nachfolgender Erlebnisbericht des Zeitzeugen Dietrich Kienscherf aus Neubrandenburg beschreiben. Der Text wurde 2001 im Turmknopf der Hohenlepter für die Nachwelt eingelötet.

Dietrich Kienscherf: „Die Amerikaner hatten am Mittag des 13. April von Barby aus die Elbe überschritten: Richtung Berlin. Am gleichen Tage nachmittags marschierten wir von Zerbst als Sturmregiment Langmaier bis Kämeritz. Die Dämmerung senkt sich während unseres Marsches über Felder und Dörfer, da beginnt schon der Totentanz: Jagdbomber und Granatbeschuss. Vor dem Ort Kämeritz graben wir uns ein. So hatte ich mir den Krieg nicht vorgestellt. Angst und nochmals Angst.

Am nächsten Morgen ziehen wir in den dichten Wald. Ein Aufklärungsflugzeug entdeckt unseren Stellungswechsel westlich des Dorfes, und das Inferno des Vortags beginnt von neuem. Artilleriesalve auf Artilleriesalve prasselt auf unsere Köpfe. Rauchschwaden ziehen durch den Wald. Das Chaos beginnt. Erschreckt fahre ich hoch in meinem Schützenloch. Durch das Gebüsch kommt jemand gekrochen. Ein Melder überbringt den Befehl: „Sofort an der Straße nach Güterglück neue Stellungen gegen Panzer beziehen.” Wieder schleichender Marsch. Wieder Ströme von Schweiß beim Buddeln der Erdlöcher. Wieder Angst ums nackte Leben. Die Panzergeräusche kommen von der Elbe her immer näher. „Wer sechs Panzer abschießt erhält das Ritterkreuz.“ Das stand in einem Feldpostbrief meines Freundes Erhard von der Oderfront, der das Datum vom 25. März 1945 trägt. Mir ist in meinem Einmannloch weder nach Ritterkreuz noch nach Panzern zumute. Ich will leben.

Dann Befehl vom Kommandeur: „2. Zug zur Bereitschaft in einen Keller des Dorfes absetzen!” Endlich weg von dem unheimlichen Motorengebrumm, einige hundert Meter zurück, hinter schützende Mauern, den Abend erwarten. Weit ist der Weg dahin. Über Leichen und zerfetzte Leiber, zwischen Trümmern der Häuser, Schritt für Schritt weg vom Tod. Stunden später drücken Sherman-Panzer Meter um Meter unsere Frontlinie in Kämeritz ein. Jagdbomber werfen heulend ihre tödliche Last in das brennende Dorf. Auch die Kirche brennt lichterloh.

Liegenbleiben kannst du hier nicht, hämmert es in meinem Schädel. Aber wohin? Die um ihre Häuser und Ställe bangenden Einwohner verwehren uns den Zugang zu den Kellern. In kleinen Gruppen entfernen wir uns dem Kampfeslärm. Irgend jemand kennt den Weg nach Niederlepte. Im Saal der Dorfgaststätte ist Sammelpunkt. Wie viel Tage sind vergangen? Wo sind die anderen? Einer hat diesen, ein anderer hat jenen tot liegen gesehen. Ich aber kann schlafen – schlafen wie ein Toter.....

„Alarm! Alarm!” - alle springen auf. Mich fröstelt. Dann marschieren wir im Schein ferner Brände nach Hohenlepte zum Ortsausgang, Richtung Kämeritz. Der Morgen des dritten Tages dämmert. Sonntag, der 15. April 1945. Sonntags im April gehen die Menschen meistens über die Felder spazieren oder in die Kirche. Heute gehen sie in den Keller.

Hinter einer Panzersperre, quer über die Dorfstraße Richtung Kämeritz, hocken hungrige und frierende Gestalten. Die Angst peitscht ihre Sinne. Fernes Geschützfeuer und flüsterndes Sprechen sind die einzigen Geräusche an diesem Sonntagmorgen.

„Hohenlepte muss gehalten werden!” Dieser Befehl beschleicht jeden von uns mit einem dumpfen Gefühl. Wir sind nicht mehr die Hälfte unserer Kompanie, und niemand weiß, dass wir bereits eingekesselt sind. Überschwere Panzer-MG beginnen zu bellen. „Panzer kommen!“ Von der Straßensperre weg rennt alles in die nahe Scheune. Sie stand damals als letztes Gebäude links Richtung Kämeritz. Schnell werden Ackerwagen zurechtgerückt, in Augenhöhe Löcher in die bröckelnde Wand geschlagen und die Läufe unserer Karabiner richten sich gegen Westen. Immer wieder dasselbe - nun seit drei Tagen schon.

Panzer mit Phosphorgeschossen, detonierende Artilleriegranaten und angreifende amerikanische Infanterie mit Schnellfeuergewehren. Hinter einer dünnen Steinwand mit Fachwerk um ihr Leben kämpfende, als Soldaten verkleidete Jungen. Die Armee Wenck sollte Berlin ‚entsetzen‘ - jetzt treibt uns das Entsetzen. Neben mir auf dem Leiterwagen poltert es - der vor Kraft strotzende Ernst ist lautlos zusammengesackt und über die Wagendeichsel gefallen. Kopfschuss! Tot! Siebzehn, genau wie ich. Ich möchte schreien, die Kehle versagt mir aber die Stimme.

Längst habe ich Brotbeutel und Gasmaske weggeworfen. Die Magazine werden immer leerer - das Inferno der Hölle wird immer unmenschlicher. „Feuer!“, gellen Rufe durch die Bauernscheune. Lodernd schlagen die Flammen in den Sonntagnachmittag. Feuer, Rauch, Schreie. Schwitzend renne ich ins Dorfinnere um mein Leben. In einem Hausflur, schräg gegenüber der Kirche, finde ich endlich ein schützendes Etwas. Es war das Haus, das an diesen Tagen eine Ruine wurde und später als LPG-Büro wieder aufgebaut war.

Hinten im Hof entdecke ich einen Keller. Man lässt mich rein. Ängstlich kauert die Familie in der äußersten Ecke. „Ihr habt Schuld, dass unsere Häuser zerschossen sind!“ Ein alter Mann sagt mir diese Wahrheit. Ich will sie noch nicht begreifen. Tränen zeichnen mein Kindergesicht. Aus Scham vor dem alten Mann? Aus Verzweiflung über den verpassten Endsieg? Drei, vier Soldaten gesellen sich zu uns. Dann höre ich ein Wort, das ich bis dahin noch nicht einmal zu denken gewagt hatte: Ergeben! Keiner widerspricht. Leben! Leben! Über Hohenlepte scheint die Aprilsonne.

Niemand wagt sich auf die Straße, im Kirchturm gegenüber hatte ein Scharfschütze der US-Army Stellung bezogen und schoss auf alles, was sich auf der Straße bewegte. Vor dem Haus lag ein verwundeter Kamerad, als wir ihm helfen wollen, wird wieder vom Kirchturm aus geschossen. Dann werfen wir Waffen und Stahlhelme weg und werden mit erhobenen Hände zu einem anderen Bauernhof geführt - das Gesicht zur Stallwand. Als man uns Taschenmesser und Uhren abnahm, konnte ich gerade noch sehen, dass es 19 Uhr war. Dann vor Wut und Hilflosigkeit nur Tränen in den Augen, dass ich meinen Nebenmann gar nicht erkennen kann.

Kaum einer von uns ist dem Ortskampf in Hohenlepte entkommen. Mit 123 Mann waren wir drei Tage zuvor aus dem Zerbster Kasernentor marschiert. Wir Sechs auf dem Dungberg haben gesund die Hölle überstanden, Sechs, die dann auf einen Lkw verfrachtet werden.

Sieben weitere liegen auf Tragen oder kauern mit durchbluteten Verbänden im Blickfeld der Wachposten am Boden. Viele fanden den Tod in Kämeritz, in Walternienburg und Hohenlepte. Ihre Gräber befinden sich in Biere, Walternienburg, Förderstedt und Moritz.

Bis in die tiefe Nacht stehen wir auf dem Lkw mit erhobenen Händen im Schein des brennenden Dorfes. Keiner redet, aber auch keiner denkt daran, dass es Sonntag ist und auf den Feldern die Saat grünt. Es ist Frühling an der Elbe - Frühling 1945.

Der Krieg war erst am 8. Mai zu Ende. Da war ich schon in amerikanischer und später französischer Gefangenschaft, die erst am 20. Dezember 1948 für mich endete mit der Heimkehr nach Schlagenthin.

Als ich 1972 Hohenlepte erstmals besuchte, war über die Soldatengräber nichts zu erfahren. Erst nach der Wende, 1993, kann ich nun jährlich meiner toten Kameraden gedenken, 1999, 2000 und 2001 auch in Anwesenheit amerikanischer Veteranen, die in Hohenlepte gekämpft hatten.“