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Berufe Auf die Haut: Versuch mit spitzer Nadel

Volksstimme-Mitarbeiter schnuppern in interessante Beruf hinein. Heute: Tätowiererin.

05.08.2019, 23:01

Staßfurt/Groß Börnecke l Ich soll jetzt was zeichnen und weiß gar nicht so genau was. „Schreib doch einfach Deinen Namen“, wird mir geraten, weil ich so fragend in die Runde schaue. „Oder male irgendetwas, ein Herz, eine Blume.“ Was mache ich denn jetzt? Ich nehme den Kugelschreiber und setze zu einer Spirale an. Irgendwie will die Farbe auf dem Untergrund nicht so richtig halten. „Naja, aber nicht zu kompliziert für den Anfang“, höre ich meinen „Kollegen“„ neben mir noch sagen und mache mal lieber Schluss mit der Schnörkelei, schreibe einfach meinen Vornamen. Der Schriftzug steht jetzt nicht auf Papier, sondern auf einem wabbeligen kleinen Rechteck. Es ist nicht weiß, sondern hat die Farbe von Haut. Und genau diese soll es auch sein. Ich übe auf Kunsthaut, extra hergestellt zum Probieren für Tätowierer und all jene, die es werden wollen. Früher wurde dafür Schweinehaut genutzt. Das ist heute aber nicht mehr üblich.

Die Leute, die mich heute während meines Praktikums begleiten, brauchen keine Kunsthaut mehr. Sie sind echte Profis in dem, was sie machen und ich habe das Glück, in ihrer Mitte zu sitzen und mir über die Schulter schauen zu lassen. Im Gegenzug kann auch ich zusehen, wie sie arbeiten. Wir unterhalten uns, es wird viel gelacht, die Atmosphäre ist locker, entspannt. Ich fühle mich sehr wohl. Das Betriebsklima hier stimmt auf jeden Fall, so mein erster Eindruck. Das Studio in dem wir arbeiten ist von der Einrichtung her schon ein kleines Kunstwerk. Kreativität schreit einem entgegen, wenn man den Raum betritt. Zig Preise hängen an den Wänden. Männer und Frauen, die hier arbeiten, haben die Trophäen auf Messen gewonnen, an Ausscheiden teilgenommen und schon unzählige Arbeiten erfolgreich zu Ende gebracht. Auf jeden Fall muss man zeichnen können, das habe ich schon kapiert, aber zurück zu meinem Arbeitstag.

Dieser beginnt in der Früh. Wir hatten uns 8.30 Uhr getroffen. Da war das Studio aber schon aufgeschlossen. Michael Zuther (alle nennen ihn Micha), ist dabei, ein Motiv, das er in Kürze stechen wird, am Tablet nachzuzeichnen. Er erklärt mir, dass er nur die Konturen markiert. Diese werden dann mit einem speziellen Drucker auf ein Blatt übertragen, dass als Grundlage auf den Körper kommt. Anhand der Linien tätowiert er dann und weiß genau, welche Nadel wo angesetzt wird. Denn es gibt verschiedene Stärken, um beispielsweise Schattierungen zu erzeugen. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Aber so entstehen am Ende Kunstwerke, Porträts berühmter Leute, das geliebte Haustier, Vorbilder, Stilikonen, die Mama, Kinder.

Der Stil, den die Tätowierer mit denen ich heute arbeiten darf, verfolgen, nennt sich „Realistic Art“, also realistische Kunst. Soll heißen, die Bilder auf der Haut sehen aus, wie in der realen Welt. Darauf haben sich die Zeichner spezialisiert.

Und so drängt sich die Frage auf, welche Vorlieben die Kunden haben. Gibt es diese überhaupt und mit welchen Wünschen kommen die Leute in den Laden? Hier erzähle ich auch ganz offen, dass ich früher gesagt habe, mich selbst auf keinen Fall tätowieren zu lassen, dann aber schon einmal ins Grübeln kam, nach wie vor aber „nackt“ bin, was die Kunst auf der Haut anbelangt. Ich kann mir vorstellen, dass der Wunsch eines Tattoos entsteht, wenn man schöne wie auch schmerzhafte Erinnerungen damit einfangen oder verarbeiten möchte. Da liege ich zum Teil richtig, erfahre ich. Bei dem einen sei es ein geliebter Mensch, dessen Porträt gezeichnet wird oder wie gesagt ein Haustier, ob Katze oder Hund. „Tätowierungen erzählen meist Geschichte, wenn man einmal anfängt, kann man meist nicht aufhören“, weiß Maria Kyprianides, auch Mia genannt. Sie kam vor sechs Jahren zu ihrem heutigen Job, nachdem sie freie Kunst in Kiel studierte, dort und danach längere Zeit in Hamburg und Ülzen wohnte, wo sie Comics illustrierte. Ihr Mann habe ihr schließlich zugeredet, erzählt die junge sympathische Frau. Er machte Mut, sie habe Talent und solle es wagen, lächelt Mia, und so habe sie beschlossen, den Schritt zu gehen. Seit sechs Jahren ist sie dabei und glücklich mit ihrer Entscheidung. Sie arbeitet wie ein Großteil der Tätowierer selbstständig.

Dass sie die Räume in Staßfurt zusammen mit weiteren Kollegen nutzen kann, stimmt sie froh. Früher als Illustratorin habe sie sich in ihrem Atelier manchmal ein bisschen einsam gefühlt. Das sei jetzt natürlich keinesfalls mehr so. Wird Mia, die vor einigen Jahren wieder zurück in ihre alte Heimat nach Groß Börnecke zog, gefragt, was sie an dem Beruf des Tätowierers begeistert, sagt sie, dass sie die Abwechslung liebt, denn jedes Tattoo sei unterschiedlich, individuell, maßgeschneidert für den Kunden. „Wir versuchen, jedem etwas ganz Besonderes zu geben, das sich abhebt. Das jeder Kunde nachher rausgeht und auch in 20 Jahren vor dem Spiegel noch sagt: geil, geil geil ...“ Dies ist der Anspruch, den sie und ihre Mitstreiter im Staßfurter Studio an sich selbst stellen. Ich erfahre noch, dass das Stechen eines Bildes – je nach Größe und Aufwand – bis zu sechs Stunden dauern kann. Vorher findet an einem anderen Tag ein Beratungsgespräch statt. Das ist wichtig, um das Motiv zusammen so lange auszutüfteln, bis es da ist . Es kann auch sein, dass das nicht gelingt und dann auch nicht tätowiert wird. „Wir sind bedacht, jedem etwas individuelles zu geben“, sagt auch Micha, der immer noch an seinem Tablet sitzt.

Während wir erzählen, habe ich ganz vergessen, meine Kunsthaut weiter zu bearbeiten. Das wabbelige Stück mit meinem Namen liegt vor mir auf einem schwarzen kleinen Tischchen und mein netter Kollege, der mir erklärt und zeigt, wie man eine Nadel in die Tätowierfeder einsetzt, bittet mich, meine Hände zu desinfizieren. Ich mache das und habe danach eine gefühlte halbe Stunde zu tun, die geforderten schwarzen Gummihandschuhe über meine Hände zu würgen, weil die Finger so schwitzig sind. Naja, ein bisschen Aufregung darf ja auch sein, wenn man das erste Mal tätowiert, haben die anderen um mich herum vollstes Verständnis. Dann tauche ich die Nadel vorsichtig in ein kleines Fässchen mit spezieller Tätowiertinte. Vorher hat mein Assistent das Gerät angestellt. Die Nadel rattert und ich setze an. Ich bin vorsichtig, etwas zu vorsichtig, ich muss ein bisschen mehr aufdrücken, aber auch nicht zu doll, dann besteht wieder Gefahr, zu tief zu stechen, durch die Haut durch, dann würde alles verlaufen und das Tattoo wäre verpfuscht. Langsam erkenne ich eine Linie, aber die Hand will nicht ruhig bleiben, ich stütze sie mit der anderen, aber Geduld habe ich keine, ich schreibe ratz fatz – wie ich es beim Schreiben gewohnt bin. Aber das ist alles andere als richtig.

„Das geht nur ganz langsam“, sagt Mia. Sie strahlt Ruhe und Geduld aus. Ich bewundere das ein bisschen und fühle mich trotz meiner Hektik wohl. Keine Frage, den Beruf des Tätowierers können nur wenige Leute ausüben. Sie müssen kreativ sein, zeichnen können, ruhig sein, ihr Handwerk beherrschen, Ideen haben, diszipliniert sein ....

„Leider gibt es noch keine Ausbildung“, bedauert Maria. Das Handwerk müsse man sich selbst und unter Anleitung von professionellen Künstlern aneignen. Sie ist klar dafür, dass bestimmte Lizenzen verteilt werden müssten, dass nicht jeder einfach so ein Studio eröffnen könne. Es brauche eine lange Zeit der Übung, bevor am Menschen tätowiert wird, jeder Handgriff muss sitzen. Über die Diskussion in der Politik über das Thema könnten all jene, die sich interessieren, auch bestimmten Organisationen und Institutionen wie dem Bundesverband der Tätowierer informieren, erfahre ich. All das wird mir berichtet und ich könnte noch weitere Fragen stellen, aber mein Praktikum ist leider vorbei.

Ich verlasse meine Arbeitsstelle mit einem Stück Kunsthaut in der Tasche, darauf steht mein Vorname. Sieht man genau hin, ist die Linie verwackelt. Auch meine erste Nadel, mit der ich gestochen habe, wurde mir als Souvenir geschenkt. Danke für diese kreative Erfahrung!

 

Die nächste Folge der Sommerserie erscheint am kommenden Dienstag, 13. August: Dann arbeitet Jan Even als Polizist. Bisher arbeiteten Olaf Koch als Bierbrauer, Enrico Joo als Schwimmmeister, Thomas Linßner als Kindergärtner, Falk Rockmann als Betonbauer und Sebastian Rose als Bootslehrer.