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Brandstifter Nachbarn leben in Angst

In einem Staßfurter Wohngebiet sind die Anwohner alarmiert. Es wird immer wieder an den Wohnhäusern gezündelt.

22.01.2020, 23:01

Staßfurt l „Was wäre gewesen, wenn ich nicht wach geworden wäre? Dann hätte unser ganzes Haus in Flammen gestanden.“ Birgit Fischer ist mit den Nerven am Ende.

Ihre Nachbarn auch. Ehepaare und Alleinstehende von neun Haushalten einer eigentlich beschaulichen Siedlung sitzen am Montagabend zusammen im Wohnzimmer von Birgit und Lothar Fischer. „Wir können nicht mehr schlafen“, erzählt eine junge Frau. „Was ist, wenn ich mal eine Schlaftablette nehme und nicht wach werde, wenn es brennt?“, meint eine andere. „Man ist ständig auf der Hut. Bei jedem Geräusch draußen zuckt man zusammen“, sagt eine Dritte.

In der Nacht zu Sonntag ist Birgit Fischer im Bett durch einen lauten Knall hochgeschreckt. Wenig später sieht sie ihre Haustür in Flammen stehen. Eine kleine Tüte wird später gefunden, die wohl mit Brandbeschleuniger bestückt und auf die Fußmatte gelegt worden war.

Wieder einmal löschen die Hausbewohner die Flammen selbst. Wieder einmal holen sie die Polizei. Denn seit Oktober gibt es bereits fünf Brandstiftungen in zwei Straßen des Wohngebietes.

„Am 22. Oktober haben bei uns der Carport und unser Auto gebrannt“, berichtet Bernd Daniel. Das Auto seines Nachbarn Werner Bruchhard hatte durch die Flammen auch einen Totalschaden. Ende Oktober brannte dann eine Straße weiter die Mülltonne eines anderen Hauses. Am Neujahrstag dann die gelbe Tonne eines dritten Hauses. „Wir konnten das Feuer selbst löschen“, berichtet die Betroffene Karola Mokracek dazu.

Am vorletzten Dienstag traf es nochmal Bernd Daniel. „Unser Schuppen mit Fahrrädern, Rasenmäher und so weiter brannte komplett ab. Der Täter muss über unser Grundstück gekommen sein, denn anders kommt man nicht heran“, berichtet Bernd Daniel.

Und am letzten Sonntag dann die Haustür von Birgit Fischer. „Das Maß ist jetzt voll“, sagt Birgit Fischer und alle stimmen ein. Bei der Krisensitzung am Montagabend überlegen die Anwohner, was sie tun können.

Die Besitzer der schönen Eigenheime sind auch fassungslos darüber, dass scheinbar niemand etwas tun kann. „Ich erwarte in so einer Sache einfach mehr von der Polizei“, erklärt eine Frau. Bei solchen Bränden bestehe Lebensgefahr. Immer wieder kommt die Frage: „Was soll denn noch alles passieren, damit sich etwas ändert?“

Denn alle Anwohner haben denselben Mann als Täter in Verdacht. Es soll ihr eigener Nachbar sein. Er lebe ebenfalls in dem Wohngebiet und sei schon immer aufgefallen. „Mir wurden schon die Reifen gestochen und er hat eine Flasche nach mir geworfen“, erzählt eine Nachbarin. Unzählige Anzeigen werden in dem Viertel seit Jahren gegen den Verdächtigten erstattet.

Die Anwohner rechnen ihrem Nachbarn alle Brandstiftungen zu. Weil in ihren Augen eindeutige Beweise vorliegen, sind sich alle sicher. Die Aufnahme einer privaten Überwachungskamera vom Sonntag zeigt einen Mann kurz vor der Tat zu den Nachbarn hin- und einige Minuten später zurücklaufen. Die Nachbarn erkennen ihn an Gang und Kleidung. Außerdem hat man Telefonate des Verdächtigten mitgehört, bei denen er lauthals von Details der Brände sprach, die nur Beteiligte kennen können.

Auffällig sei der Verdächtigte auch, weil er seine Nachbarn beschimpfte, mehrmals nackt im Vorgarten stand, Mülltonnen der Nachbarn klaute, nachts durch die Straße wandele, oft den Rettungsdienst rufe und eine Notärztin attackiert haben soll.

Für die Anwohner sind die Brandattacken ein Mittel des Verdächtigten, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Denn auch der Rettungsdienst, den er oft rufe, wisse mittlerweile, dass an seinen Selbstmorddrohungen nichts dran sei.

Einmal habe ein Anwohner den Verdächtigten angesprochen und zur Antwort bekommen: Niemand habe etwas gegen ihn in der Hand. Er kenne die Gesetze genau. Einige Nachbarn haben bereits Mauern zum Grundstück der Verdächtigten hin gebaut.

Mehrmals haben die Anwohner die Polizei bei ihren Einsätzen vor Ort aufgefordert, bei dem Verdächtigten zu klingen und gleich Beweise zu sichern. Am Montagabend befragte dann die Kriminalpolizei den Verdächtigten an seiner Haustür. Auch einzelne Anwohner wurden nochmal als Zeugen befragt.

Für die Anwohner ist der Verdächtigte eine tickende Zeitbombe, der ihrer Meinung nach in die Psychiatrie eingewiesen werden müsste. Für die Polizei ist ihr Verdacht aber nur eine „Vermutung“.

Die Nachbarn diskutieren am Montagabend noch lange. Viel tun können sie nicht. Für den Carportbrand im Oktober soll Bernd Daniel demnächst seine Zeugenaussage bei der Polizei machen.

Die Nachbarn sind ständig in Telefonkontakt. Die seelische Belastung ist groß und an Schlaf ist nicht zu denken. „Wir wissen nicht, was noch passiert“, sagt Birgit Fischer.

Auch der Sozialpsychiatrische Dienst des Salzlandkreises kennt den Fall gut. Erst am gestrigen Mittwoch war eine Mitarbeiterin vor Ort, kam aber nicht weiter.

Da sich solche Personen bei Begutachtungen plötzlich wieder „ganz normal“ verhalten würden, falle es dem Sozialpsychiatrischen Dienst „und später auch dem Gutachter schwer, eine kurzfristige – und später auf Grundlage eines Gutachtens – auch eine längere Unterbringung zu rechtfertigen“, so Salzlandkreissprecher Marko Jeschor.

Für die Polizei sind die Aussagen der Anwohner des betroffenen Wohngebiets in Staßfurt alles nur Vermutungen und Indizien. „Bisher haben wir keine Beweise", so Polizeikommissar Marco Kopitz. Die Aufzeichnung einer privaten Überwachungskamera aus der Straße hat die Polizei ausgewertet. Auch nach der Kleidung, die der Verdächtigte auf dem Video trägt, wurde gesucht. „Aber auch die Kleidung ist nur ein Indiz und kein Beweis", so Kopitz.

„Wir wissen, dass das nicht einfach ist für die Bevölkerung", so Kopitz, „aber wir müssen einen strafrechtlichen Blick auf die Dinge haben und Straftaten nachweisen. Wir leben in einem Rechtsstaat, wo zuerst die Unschuldsvermutung gilt."

Die Kriminalpolizei aus Bernburg war am Montagabend noch einmal vor Ort, wie auch schon in der Brandnacht und am Sonntag tagsüber. Am Montagabend haben die Beamten auch beim Verdächtigten geklingelt und ihn befragt. „Eine Hausdurchsuchung konnten die Kollegen auf freiwilliger Basis durchführen", so Kopitz. Was diese ergab, kann die Polizei nicht preisgeben. Denn die Ermittlungen laufen noch. „Wir haben die Sache im Blick", erklärt der Kommissar. Auch die Kriminalpolizei hat den Anwohnern am Montag nochmal versichert, dass diese spezielle Lage besonders sensibel behandelt werde.

Für die Polizei sind die Brandstiftungen im Wohngebiet keine versuchte Körperverletzung. „Die Fälle bewegen sich an der Grenze zwischen Sachbeschädigung und Brandstiftung", so Kopitz. Die Chancen, dass so ein Täter in Untersuchungshaft kommt, die die Staatsanwaltschaft anordnen müsste, gehen gegen Null. „Im Vergleich zu anderen Verbrechen, wo Täter auch nicht in U-Haft kommen, sind diese Kleinstfälle strafrechtlich gesehen Lappalien."

Der Rat an die Anwohner: Sofort die Polizei rufen, wenn etwas passiert. Anwohner können weiter Hinweise und Beobachtungen sammeln. Dies helfe bei den Ermittlungen. „Je engmaschiger das Netz, umso besser", so Kopitz.

Was sie tun können, wenn sie den Täter selbst erwischen, haben die Anwohner die Polizei schon gefragt. „Das Festhalten von Tätern auf frischer Tat – bis die Polizei kommt – ist erlaubt", so Kopitz.