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Flüchtlinge Angekommen in der neuen Heimat

Im Oktober 2015 kam die syrische Familie Dabel nach Deutschland. Dort wohnt sie seit 2016 im Pfarrhaus in Güsten und fühlt sich pudelwohl.

04.03.2019, 23:01

Güsten l Manchmal braucht es keine Worte, wenn der Moment an sich und die Geste, die ihm innewohnt, die Herzen öffnet und Kulturen verbindet. Beim gemütlichen Nachmittagskaffee sitzen im Pfarrhaus in Güsten die syrische Familie Dabel mit Soziallotsin Julia Globig und Gabriele Kirchschlager von der katholischen Gemeinde zusammen, als die Tür aufgeht und Mervat Alseleh mit ihrem ganzen Stolz ins Wohnzimmer tritt. Baby Hadi, das am 10. Januar geboren wurde, hat sie auf dem Arm. Julia Globig streckt die Arme nach vorn, übernimmt den Jungen und wiegt ihn von links nach rechts. Dabei schaut sie lächelnd auf das schlafende Baby in ihren Armen. Niemand sagt etwas. Und es braucht ja auch keine verbale Bestätigung für Menschlichkeit.

Seit Oktober 2015 lebt die syrische Familie Dabel in Güsten. War die jetzt siebenköpfige Familie am Anfang in der Anneliese-Kaiser-Straße zu Hause, wohnt sie nun seit Juni 2016 im Pfarrhaus. Wie viele andere Familien sind die Dabels wegen des Bürgerkriegs in ihrem Heimatland nach Deutschland gekommen. Und wie viele andere haben sie dabei Strapazen durchgestanden, die an die Nieren gehen. Es ist nur eine von vielen Geschichten. Aber jede einzelne ist erzählenswert.

Bei den Dabels fing alles im September 2015 an. In der Großstadt Idlib im Nordwesten, 50 Kilometer südlich von Aleppo, hat die Familie bis dahin ein lange Zeit ruhiges Leben geführt. Der heute 45-jährige Papa Mohammad Wael Dabel führte als Rechtsanwalt eine Kanzlei, verdiente gutes Geld. Seine Frau Mervat Alseleh arbeitete in seiner Firma als Sekretärin. Lange Zeit können die Dabels dem Krieg trotzen, die Kanzlei läuft, während schon Millionen andere Syrer ihre Heimat verlassen haben. Im September 2015 kam allerdings der Tag X, der alles veränderte. Bei einem weiteren Bombenangriff wurde die Kanzlei von Mohammad Wael Dabel zerstört. Seine Frau Mervat machte den wichtigen Schritt und drängte ihren Mann zu einer Entscheidung: In Syrien gibt es keine Zukunft mehr. Familie Dabel ging weg, es war der 11. September 2015. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken mit den nötigsten Sachen, das wichtigste Utensil war das Handy in der Hand, mit dem sie sich austauschten und Informationen einholten. Darin sind bis heute die einzigen Familienfotos, die es noch gibt.

Am Anfang konnten die Eltern nicht über die Flucht reden, zu sehr hatte die Erinnerung sie innerlich aufgewühlt. Heute versuchen sie es. „Wir sind nachts sechs Stunden zu Fuß über die Berge in die Türkei gelaufen“, sagt Mohammad Wael Dabel auf deutsch. Dort verbrachten sie einige Nächte in Camps, mussten sich auch verstecken in Firmen oder im Wald, bis sie nach weiteren Fußmärschen die Möglichkeit hatten, mit 21 anderen Flüchtlingen mit dem Boot auf die griechische Insel Samos überzusetzen. „Die Kinder haben geschlafen“, so Dabel. Dann ging es weiter nach Athen, mit dem Bus nach Mazedonien, dort war die Familie wieder drei bis vier Stunden zu Fuß unterwegs, im Zug ging es danach nach Serbien. Zwischendurch fanden die Dabels in einer Mühle Unterschlupf, bevor sie nach Ungarn kamen. „Dort hatten wir die Wahl, ob wir in ein Camp gehen oder mit dem Taxi nach Budapest fahren.“

Die Dabels nahmen das Taxi, liefen dann in Ungarn über die Grenze nach Österreich, verbrachten einen Tag in Wien und erwischten dann einen Zug nach Deutschland ins bayrische Passau. „Kurz hatten wir überlegt, ob wir nach Schweden gehen oder nach Deutschland.“ Die Dabels entschieden sich für Deutschland, wurden auf die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt verteilt, kamen über Ballenstedt, Quedlinburg, wieder nach Halberstadt, Bernburg und schlussendlich am 26. Oktober 2015 nach Güsten. Da braucht Mohammad Wael Dabel nicht überlegen, wann der Neuanfang begann. Es ist ein Datum, das er nie vergisst.

Am 27. Oktober schon besuchte Julia Globig das erste Mal die Familie, verteilte Spielzeug und Kleidung und ist seitdem die helfende Hand in allen Lebenslagen. „Sie ist wie eine Schwester für mich“, sagt der Familienvater. Sie hilft bei Anträgen für Arbeitslosengeld II, Kindergeld oder Wohngeld. Geht mit zu Arztterminen. Und das alles ehrenamtlich. „Am Anfang war das ein Halbtagsjob“, sagt Julia Globig, die eigentlich Tierarzthelferin ist. „Ohne meinen Mann hätte ich das nicht geschafft, er hat sich viel um unsere kleinen Zwillinge gekümmert.“

Noor, die älteste Tochter der Dabels, ist elf Jahre alt, Schülerin am Dr.-Frank-Gymnasium in Staßfurt und vorbildlich integriert. Immer wieder plappert das selbstbewusste Mädchen auf deutsch los, übersetzt dort, wo ihr Papa noch Schwierigkeiten hat. Dass sie die deutsche Sprache erst vor drei Jahren gelernt hat, ist ihr nicht anzumerken.

Aber auch die Eltern bemühen sich. Mervat Alseleh hat gerade den Sprachkurs B2 bestanden, ihr Mann bereitet sich gerade auf diese Prüfung vor. Natürlich hängt an den Sprachfähigkeiten auch die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt. „Ich kann irgendwas arbeiten. Ich würde alles machen“, sagt der Familienvater. Doch obwohl sich auch der Salzlandkreis und das Jobcenter bemühen, mahlen deutsche Mühlen hier manchmal langsam. So fehlt manchmal auch der Kontakt zur normalen Bevölkerung. „Das brauche ich“, sagt Mohammad Wael Dabel. Aber auch hier ist der Wille da. Seine Frau geht mehrmals die Woche zum Sport, mischt sich dort unter das Volk.

Und natürlich setzt auch die katholische Gemeinde die Hebel in Bewegung, die sie hat. „So gab es zum Beispiel 2016 ein Frühlingsfest im Hof des Pfarrhauses, da wurde gegrillt“, erzählt Gabriele Kirchschlager, die für die Dabels „wie eine Mutti“ ist. „Sie hilft uns. Wir sind froh, dass wir in Deutschland sind“, sagt Mohammad Wael Dabel. 5000 Euro pro Person hat die Flucht gekostet. Dass ganze Familien nach Deutschland kommen, ist selten, weil es so teuer ist.

Die katholische Gemeinde vermittelte natürlich auch die Wohnung im ersten Stock des Pfarrhauses. „Die stand lange leer. Wir haben dann die Dabels gefragt, ob sie da einziehen wollen“, so Kirchschlager. Nach der Besichtigung kam das Okay. Auf 85 Quadratmetern leben die Dabels in der Vier-Raum-Wohnung, die vom Jobcenter bezahlt wird. Sicher sind andere Wohnungen besser eingerichtet. Aber: „Wir fühlen uns wohl hier und wollen auch in Güsten bleiben“, so Dabel. Der größte Beweis für den Wohlfühlfaktor ist sicherlich der kleine Hadi, der in Deutschland geboren wurde. Einen Aufenthaltstitel haben die Dabels erst einmal bis Juli diesen Jahres. Was danach passiert, wissen weder die Dabels noch Globig oder die katholische Gemeinde. Schon jetzt ist aber klar: Gerade für die Kinder wäre eine Rückkehr nach Syrien kaum noch vorstellbar. Zu sehr sind diese bereits integriert.

Die Mutter von Mohammad Wael Dabel wohnt in Bad Schwartau, auch ein Bruder wohnt dort. Viele andere Familienmitglieder sind aber im Krieg ums Leben gekommen. „Ich habe meinen Bruder verloren“, drückt es der Familienvater aus. „Meine Frau hat ihren Bruder verloren, eine Schwester von mir ist in der Türkei mit vier kleinen Kindern. Die hat ihren Mann verloren.“

„Wir reden nicht viel über Details, das sitzt viel zu tief“, sagt Julia Globig. Was sie gemerkt hat: „Die Knallerei an Silvester im ersten Jahr war schlimm, gerade für die Kinder.“ Das hat die Familie an den Krieg in der Heimat erinnert. „Als ich eine andere syrische Familie auf den Krieg angesprochen habe, ist das Gesicht des Vaters bleich geworden, er hat die Hände vor das Gesicht geschlagen“, erzählt Gabriele Kirchschlager. „Da habe ich mir geschworen: Ich mach das nie wieder.“

Natürlich erfährt die Gemeinde auch kritische Stimmen aus der Bevölkerung. „Die fragen uns, wie wir solche Leute ins Pfarrhaus lassen können“, sagt Kirchschlager. Und warum dort immer Licht brenne. „Ich sage dann, weil sie schwere Zeiten durchgemacht haben, weil sie Angst im Dunkeln haben. Gerade die Kinder. Die meisten Bürger sind aber positiv eingestellt.“ Sie versuchen zu verstehen, was der Familie passiert ist. Auch für Julia Globig ist ihre Arbeit immer wieder ein Grund inne zu halten. „Wahnsinn, was wir alles haben. Man muss Empathie zeigen und helfen.“ Für sie gibt es nur diesen Weg.