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Inklusion Wenn Barrieren im Kopf fallen

Über ein halbes Jahr war der Kunsthof Stilbruch in Staßfurt heimatlos. Im Jugend- und Bürgerhaus findet der Verein ideale Bedingungen vor.

20.09.2019, 23:01

Staßfurt l Vorschnelles Geplapper gibt es bei Christine Fischmann nicht. Wenn die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Staßfurt gefragt wird, überlegt diese lieber zweimal oder dreimal bevor sie antwortet. Und die Frage, wie sie es findet, dass der Kunsthof Stilbruch im Jugend- und Bürgerhaus in Staßfurt eine neue Heimat gefunden hat, bedenkt sie mit einer langen Kunstpause. Dann sagt sie: „Die Zeit war reif, dass der Apfel vom Baum fällt.“ Auf der anderen Seite des Tisches zeigt Peggy Schneider – Leiterin des Kunsthofes – lachend mit dem Finger auf Fischmann, bevor beide nicken.

Seit Juli hat der Kunsthof Stilbruch endlich wieder eine Heimat. Nach langer entbehrungsreicher Zeit. Seit fast 30 Jahren existiert dieser besondere Verein, der sich in großem Maße für Inklusion von Behinderten und auch nicht behinderten Menschen einsetzt. Hat der Kunsthof seine Wurzeln im Harz, ist er nun seit neun Jahren in Staßfurt ansässig. Im November 2018 musste der Verein seine Räumlichkeiten in einem Privathaus verlassen, weil das Haus verkauft wurde.

Der Neuanfang begann im April 2019. Beim Kompositionswettbewerb für einen Staßfurter Inklusionssong kamen Peggy Schneider und Christine Fischmann zusammen. Und hier kam etwas ins Rollen, das lange überfällig war. Denn der Einzug des Kunsthof Stilbruchs in das Begegnungszentrum in Staßfurt Nord ist auch verknüpft mit der Geschichte von zwei Frauen, die ja geistesverwandt sind und trotzdem all die Jahre aneinander vorbei gearbeitet haben. „Frau Fischmann ist genauso verrückt wie ich“, sagt Peggy Schneider. Beide setzen sich für eine bunte Gesellschaft ein, für die Normalisierung und Gleichstellung aller Menschen. Für eine Welt, in der Makel keine Hindernisse sind. „Die muss zu uns“, hatte Christine Fischmann nach dem ersten Gespräch über Peggy Schneider gesagt. „Das wäre eine wahnsinnige Bereicherung.“ Schneider kommen die Tränen. Sie freut sich, dass ihr Kunsthof von der Stadt angenommen wird.

Beim Kunsthof Stilbruch wird gestrickt, es gibt Gesprächskreise, es wird gemalt, gesungen und getanzt. Alles, was Spaß macht, hat auch seinen Platz dort. Und so organisiert der Kunsthof Stilbruch immer wieder kleine Aufritte. Beim Miteinanderfest vor zwei Wochen war der Kunsthof vor Ort, am Tag der Regionen am 29. September kommt ein kleiner Programmpunkt ebenfalls vom Kunsthof.

„Für uns ist es Inklusion, es nicht behindert zu nennen“, sagt Schneider. „Es gibt keine Altersgrenze, keine Beschränkungen. Wir brauchen auch keine Werbung zu machen, neue Mitglieder kommen von allein. Das passiert einfach.“ Das passiert einfach. Das sagt Peggy Schneider immer wieder. Es ist so eine Art luftig leichtes Credo für den Verein. Und doch war die Zeit schwer. Als der Kunsthof keine Räumlichkeiten mehr hatte, wurde in privaten Wohnzimmern geprobt. Immer woanders. Mit riesigem Aufwand.

Für die Ehrenamtlichen war das eine enorme organisatorische Belastung. Fast schon hatte Schneider sich nach Magdeburg oder Braunschweig umorientiert. Der Kunsthof wäre aus Staßfurt verschwunden. „Ich frage mich, warum wir immer wieder Nackenschläge bekommen“, sagt Schneider. Denn Probleme gab es immer wieder. Oft schon musste der Kunsthof umziehen, wieder neu anfangen, wieder Begeisterung entfachen. Doch daraus zog der Verein auch Kraft. Die offenen Arme von Christine Fischmann waren nun in diesem Jahr ein Geschenk des Himmels. „Hier herrscht eine Atmosphäre, wo man sich gut fühlt. Man hat nicht das Gefühl, dass man eine Fremde ist“, sagt Fischmann.

Schwierige Themen kommen auf den Tisch, oft künstlerisch verpackt. Vom Schicksal gebeutelte Kinder und Erwachsene finden durch Musik ein Ventil, um sich ausdrücken zu können. Sachen werden aufgearbeitet, die lange verschüttet waren. Kinder kommen immer wieder her, weil sie sich wohl fühlen. Da ist zum Beispiel die zehnjährige Lara, die schon als Baby an Krebs erkrankte und immer noch kämpft. „Eines der stärksten Mädchen, das ich kenne“, meint Schneider.

Immer montags von 16 bis 20 Uhr treffen sich im Gesprächszentrum Laura – die Räume bekommt der Kunsthof Stilbruch kostenfrei zur Verfügung gestellt – mal 20, mal 30, mal noch mehr Leute. Das Jugend- und Bürgerhaus wird so also noch mehr belebt. „Perspektivisch ist da noch mehr drin“, so Fischmann. Besuche beim Billardverein oder in der Bibliothek hält sie für denkbar, alles ist im gleichen Haus. Das unterstreicht den Mehrwert von Inklusion durch Begegnung. „Barrieren verschwinden dann im Kopf“, so Fischmann.