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Kultur Nur anders, aber nicht unnormal

Das Inklusion Netz Staßfurt hat im Salzlandtheater den INS-Theatertag gefeiert. Gezeigt wurde ein Stück, das sich mit Autismus beschäftigt.

01.11.2020, 23:01

Staßfurt l Valentin ist anders als die anderen Kinder. Suppe zum Abendbrot? Das möchte Valentin nicht. Er wehrt sich mit Händen und Füßen, beschwert sich lautstark, den Suppenlöffel hält er fest umklammert in seiner rechten Hand. Der Löffel ist ein Symbol für die innere Blockadehaltung. Valentin kennt das nicht: Suppe zum Abendbrot, das ist ungewohnt. Und ungewohnte Situationen machen ihm Angst, verunsichern ihn. Mehr als andere Kinder. Denn Valentin ist Autist, hat also eine Entwicklungsstörung, die sich unter anderem darin zeigt, dass er beim Essen seinen Rhythmus und seine angelernten Gewohnheiten braucht, um sich wohl zu fühlen.

Was braucht es also? Valentin möchte Brot zum Abendbrot mit Wurst und das darf nicht irgendwie serviert werden. Die Wurst muss in Würfel und das Brot in Kreise geschnitten werden. Valentin braucht Würfelbrot. Das schmeckt ihm, das gibt ihm Sicherheit.

Es ist eine dieser einprägenden Szenen im Theaterstück „Würfelbrot“, die dem Stück auch seinen Namen gegeben haben. Erfunden ist die Szene nicht, sie beruht auf einer wahren Begebenheit und zeigt überaus deutlich: Inklusion ist wichtig.

Vorige Woche herrschte noch einmal großer Trubel im Staßfurter Salzlandtheater. Kinder riefen aufgeregt durcheinander, Erzieher und Lehrer versuchten die Wildfänge zu bändigen, die sich auf ein besonderes Erlebnis freuten. Im Salzlandtheater lud das Inklusion Netz Staßfurt zum INS-Theatertag ein. Das hat Tradition. Immer im Mai veranstaltet das Netzwerk eigentlich die Aktionstage zum Thema Inklusion. Weil die im Frühjahr wegen der Corona-Pandemie in normaler Form nicht stattfinden konnten, wurden sie auf das Jahr gestreckt auf viele Aktionen. Und der Theatertag also vom Mai in den Oktober verschoben.

Erstmals war dabei das „BrilLe-Theater“, ein Kinder- und Jugendtheater aus Witten in Nordrhein-Westfalen, in Staßfurt zu Gast. Das Ensemble hat eine mobile, also keine feste Bühne, und reist je nach Anfrage durch Deutschland. Das Theater entstand 2001 und hat 13 freiberufliche Mitarbeiter. Beim Inklusion Netz Staßfurt waren die Netzwerk-Mitglieder durch Recherchen im Internet auf das Inklusions-Stück „Würfelbrot“ gestoßen. Es gab eine Anfrage, die Rückmeldung war positiv. So konnte das Stück also in Staßfurt gleich zwei mal hintereinander aufgeführt werden. Finanziert wurde das übrigens über Zuwendungen der Sozialorganisation „Aktion Mensch“.

Worum geht es in dem Stück? „Wir hatten eine Geschichte über einen Antihelden geplant“, erzählt Britta Lennardt, Gründerin und Leiterin des Theaters. „Jetzt ist es ein gesellschaftliches Stück über eine verschobene Familiengeschichte.“ Das Stück ist dabei bei Proben improvisierend entstanden. „Co-Autor war dabei ein autistischer Junge, der wertvolle Hinweise gegeben hat. Dazu haben wir viel über Autismus gelesen. Wir haben uns aus mehreren Perspektiven dem Thema genähert“, sagt Lennardt.

In der Geschichte geht es um die kleine Elsa, die bei ihrem Onkel Walter in einem kleinen, verschrobenen Häuschen lebt, das direkt auf einer Höhle erbaut wurde. Eine Expedition steht kurz bevor, als plötzlich Valentin, der Sohn von Tante Lisa, vor der Tür steht. Alles wird anders. Was ist „normal“? Wer entscheidet das? Wie geht Elsa mit der neuen Situation um? „Alles dreht sich jetzt um Valentin, Elsa fühlt sich extrem ausgeschlossen“, erklärt Britta Lennardt. „In ihr herrscht ein wahnsinniges Durcheinander. Das Abtauchen in die Höhle ist auch eine Metapher.“ Das Stück will also nicht nur Verständnis für Valentin vermitteln, sondern auch für Elsa.

„Würfelbrot“ ist dabei nur eines von vielen Stücken des Theaters. „Wir haben viele Themen. Es geht immer um Lebenswirklichkeiten für Kinder. Wir versuchen das philosophisch zu betrachten. Wir wollen anrühren und bewegen“, erzählt Lennardt. Selbstvertrauen soll vermittelt werden. „Wir wollen auch ein Stück Seelenfürsorge leisten.“ Natürlich werden in erster Linie Kinder angesprochen. Aber auch Erwachsene sehen die Stücke gern. So hört es auch Lennardt immer wieder in Rückmeldungen. Derzeit bereitet das Theater mit „Peter Pan“ ein neues Stück vor. Eine weitere neue Inszenierung ist in Planung. Mit dem Stück „Würfelbrot“ ist das Ensemble seit 2015 auf Tour.

In Staßfurt kam die Inszenierung gut an. Auch bei der Staßfurter Gleichstellungs- und Inklusionsbeauftragten, Christine Fischmann. „Wir wollen mit unseren Aktionstagen dafür sensibilisieren, dass Menschen verschieden sind und nicht als unnormal bezeichnet werden dürfen. Sie dürfen nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden“, erzählt Fischmann. Es soll ein Paradigmenwechsel erfolgen. Und Kinder sollen so früh wie möglich an die Thematik herangeführt werden. „Nur durch Begegnung werden Beeinträchtigungen als normal empfunden“, sagt Fischmann. Daher auch der Theatertag in Staßfurt.

Im ersten Durchgang waren dabei Kinder der Kitas „Leopoldshaller Spatzennest“, „Kinderland“, „Benjamin Blümchen“, „Teichspatzen“, „Kinderhaus St. Martin“, „Regenbogenland“ und „Zwergenland“ aufgeregte Gäste.

Im zweiten Durchgang freuten sich Kinder der Grundschulen „Johann Wolfgang von Goethe“ und der Grundschule Löderburg über die Geschichte von Valentin und Elsa. Mehr Kitas und Schulen konnten wegen der Beschränkungen in der Corona-Pandemie nicht teilnehmen. „Die Kinder waren begeistert“, berichtet Fischmann. „Die Lehrerinnen sind nach dem Stück an uns herangetreten. Sie fanden das auch klasse.“ Fischmann freute sich dabei, dass die Schauspieler auch nach dem Stück noch Zeit hatten. Sie stellten sich den Fragen der Kinder, Erzieher und Lehrer. Sie erklärten den Unterschied zwischen Behinderung und Krankheit.

Zwar ist der Theatertag vorbei, aber in der Aufarbeitung wird er weiter Einfluss nehmen. „Es ist ein Stoff, der weiter bearbeitet wird“, erklärt Christine Fischmann. „Wir haben den Einrichtungen Material zur Verfügung gestellt.“ Was gehört in Valentins Welt? Wie fühlt sich Elsa? Ein kleines Quiz wurde vorbereitet. Auch eine Valentin-Puppe findet den Weg in die Kitas und Schulen. „Es soll Toleranz vermittelt und deutlich gemacht werden, welche Stärken Menschen mit Beeinträchtigungen haben“, so Fischmann.

Wie geht es in Staßfurt mit den Aktionstagen weiter? Das Inklusion Netz Staßfurt muss dabei auch die Entwicklungen in der Corona-Pandemie abwarten. Im Dezember soll der „einarmige Bandit“, wie sich der Kabarettist Martin Fromme selbst bezeichnet, nach Staßfurt kommen. Ein Miteinander-Fest ist geplant, der Inklusionspreis der Wirtschaft soll verliehen werden. Dazu soll es ein Seminar zum Bundesteilhabegesetz geben. Ob und wie das alles noch stattfindet, wird sich zeigen. „Ansonsten schauen wir, was wir 2021 machen können“, sagt Fischmann. Es steht jedenfalls schon fest, dass die 13. Aktionstage vom 3. bis zum 8. Mai 2021 stattfinden sollen. Rund um den 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.