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Vegetarier-Studie Nicht gesünder, aber zufriedener

Stendaler Studenten bedienen sich des Interviews, um vegetarische Lebensweise und ihre psychologischen Hintergründe zu beleuchten.

Von Egmar Gebert 19.08.2015, 01:01

Stendal l Das Anwenden sogenannter qualitativer Verfahren ist Bestandteil des Studiums im Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften der Stendaler Fachhochschule. Das wird von den Studierenden der Rehabilitationspsychologie trainiert, die als ein solches Verfahren eine spezielle Interviewtechnik nutzen, mit deren Hilfe sie auch Tendenzen, die einem Geschehen im alltäglichen Leben innewohnen, herausfiltern.

Von April bis Juli versuchten sich 14 Studierende des Studiengangs Reha-Psychologie mit Interviews am Thema vegetarische Lebensweise. Was ist das Besondere daran? Wie beginnt diese Idee? Was hält sie am Leben? Gibt es Rückfälle? Macht die vegetarische Lebensweise glücklich? Lebt man gesünder? Das waren einige der Fragen, denen die Interviewer auf den Grund gehen wollten. Dafür suchten sie sich unter der Stendaler Studentenschaft 14 Interviewpartner, zwi- schen 19 und 26 Jahre alt, die seit einem halben bis zu elf Jahren Vegetarier sind.

Jeweils eine Stunde lang erforschten sie ihre Interviewpartner, erfassten deren Aussagen, Beweggründe, Einsichten, Erkenntnisse auf jeweils etwa 15 Seiten. Am Ende des Projekts stand die Analyse der Interviews, gemeinsam mit ihrem Seminarleiter Dr. Rolf Horak, der an der Stendaler Hochschule Rehabilitationspsychologie unterrichtet und Fachmann in Sachen Diagnostik und Gutachtentechnik ist.

Die erste Erkenntnis, gezogen allerdings aus bundesweiten Statistiken: Zwischen sechs und neun Prozent der Bundesbürger sind Vegetarier. Wobei das eher ein Frauenthema zu sein scheint, denn schaut man sich die Sache geschlechterspezifisch an, ernähren sich 13 Prozent der Frauen und nur drei Prozent der Männer fleischlos.

Das erste Ergebnis der Stendaler Studie: Bei keinem der Befragten gaben die Eltern oder das familiäre Umfeld den Anstoß dazu, Vegetarier zu werden. Im Gegenteil. Freunde und Bekannte, die sich vegetarisch ernähren und aus ihrer Sicht gute Argumente dafür haben, waren entscheidend. Aus den Familien kam eher Ablehnung. Horak: „Interessant ist, dass es vor allem die Väter sind, die daran rummeckern, während die Großmütter sich in ihrer Kochehre gekränkt fühlen. Nach dem Motto: Dir schmeckt wohl mein Braten nicht mehr?“

Das seien prägende Erlebnisse in der ersten Phase, dem Versuchsstadium (klappt das?), der „übenden Auseinandersetzung“. Die frischen Vegetarier ziehen sich in der Regel erst einmal vom gemeinsamen Essen mit der Familie zurück, lernen, dass Essen mehr als Nahrungsaufnahme ist, und eine sehr bewusste Angelegenheit und Entscheidung sein kann. Sie erfahren Bestätigung von Gleichgesinnten, empfinden Stolz darüber, es ohne Rückfall geschafft zu haben. Allerdings, so Horak, vergingen Wochen oder Monate, bis sich „vegetarische Normalität“ einstelle.

Die festige sich mit dem Gefühl, mit der Entscheidung, vegetarisch zu leben, gehe es einem besser. „Nicht unbedingt von der Gesundheit her. Das ist eine Sache, die sich eher im Kopf abspielt, die psychologische Seite (...ich bin nicht mehr Schuld daran, dass Tiere geschlachtet werden...)“, analysiert Rolf Horak diesen Teil der Interviews. Essen werde aus seiner Normalität herausgehoben, werde zum besonderen Moment, der bewussteres Einkaufen, anderes Zubereiten, gründlichere Planung, größeren Aufwand bedeute. „Das Kochen wird plötzlich wichtig, wird zum Teil überhaupt erst gelernt, weil man sich vegetarisch ernähren möchte. Um die vegetarische Lebensweise herum organisiert sich die Welt in wichtigen Teilbereichen neu.“

Eine Vegetarier-Erfahrung, die von den fragenden Studenten herausgefiltert wurde, ist die, dass vegetarisches Leben nie fertig und immer wieder Herausforderung ist. Darf ich Fisch essen, oder Gummibärchen? Herausforderung ist auch das Widerstehen, wenn Tofu doch mal langweilig wird und das Gegrillte nebenan so gut duftet. Vegetarier sein, heißt ständige Disziplin. Rolf Horak bringt es auf den Punkt: „Es gibt keinen Vegetarismus light. Es ist eine Entweder- oder-Entscheidung, die man immer wieder neu für sich selbst trifft.“

Nach außen gehen die Vegetarier sehr unterschiedlich mit dem Thema um. Den einen genügt es, vegetarisch zu leben, ohne das zu propagieren. Man ist eher Vegetarier im Geheimen. Andere hingegen entwickeln ein Sendungsbewusstsein, bewerben ihre Lebensweise offensiv, teils aggressiv. Horak: „Mensa oder Kantine werden zu Arenen, in denen Essen zum Kampfsport wird. Man will den Leuten teilweise auch das Essen von Fleisch vergällen und ist sich seiner – besseren – Argumente jederzeit bewusst.“

Egal wie, allen Vegetariern sei eine innere Zufriedenheit gemein, die Überzeugung, das Richtige zu tun, die Umwelt zu schonen, auf Tiere Rücksicht zu nehmen, nicht Schuld an deren Tötung zu sein. Vegetarisch leben bekommt eine ethisch-moralische Dimension. Angestrebt werde, mit der Natur in Einklang zu leben.

Unter dem Strich förderte dieses Forschungsprojekt von Stendaler Reha-Psychologie-Studenten zu Tage, was nicht nur für Stendal gilt. Rolf Horak fasst zusammen: „Vegetarische Lebensweise bringt Entschiedenheit in den Alltag, sie ordnet und gestaltet ihn neu. Sie verspricht ein vernünftiges, ressourcenschonendes Umgehen mit der Welt, was zu einer inneren Zufriedenheit führen kann.“

Überrascht war er, dass die Vegetarier, die es mit der Ernährung in der Regel sehr genau nehmen, den Vegetarier-Produkten auf dem Markt relativ unkritisch gegenüberstehen. „Hier scheint man zu glauben, dass das wohl alles so stimmt. Stichwort Nahrungsergänzungsmittel, Tofu und so weiter.“

Dass vegetarische Ernährung den Gesundheitszustand radikal verbessert, sei von den Interviewten nicht berichtet worden, „eine größere mentale Zufriedenheit mit der Lebensweise war jedoch immer vorhanden.“