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Ankommenspate Mit "Opa" in ein deutsches Leben

Ein Stendaler (75) ist Ankommenspate für einen jungen Syrer (25). Und das ist viel mehr, als nur beim Deutschlernen zu helfen.

Von Nora Knappe 14.10.2017, 01:01

Stendal l Bevor Hartmut Kämpfe einmal lauter wird oder sich gar in Rage redet, muss schon was passieren – oder ihn etwas tiefgehend aufregen. Denn für gewöhnlich ist der 75-jährige von ausgeglichenem Wesen, redet ruhig, mit Bedacht, und ist ausgesprochen herzlich. Aber wenn er an all die Phrasen und Pauschalisierungen denkt, die im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Asyl herumgeistern, dann wird er wütend. „Im Mittelmeer ertrinken Menschen, die sind vor Krieg und Mord geflohen. Die haben alles zurückgelassen, weil sie leben wollen und nicht in die Armee.“

Wer die Bilder vom Herbst 2015 im Fernsehen gesehen hat, der kann doch nicht gleichgültig bleiben oder Menschen in Not sich selbst überlassen – denkt Hartmut Kämpfe. Und weiß, dass nicht nur im AfD-Sprech ganz anders geredet wird. Und dass es Leute gibt, die mitfühlende, helfende Menschen wie ihn nicht ertragen oder ihnen gar schaden wollen.

Und genau deswegen hatte Hartmut Kämpfe Angst, um sich, seine Familie, sein Zuhause; hatte gehadert, sich überhaupt mit der Volksstimme für dieses Gespräch zu treffen. Sagte schließlich zu, machte aber doch wieder einen Rückzieher. Bevor ihm sein Gewissen und sein Herz dann doch einen Schubs gaben. Und sein Glaube. „Als bekennender Christ wollte ich Haltung zeigen und christliche Liebe aktiv gestalten. Wir müssen uns starkmachen und zeigen: Wir sind offen, für alle.“

Aber was nun tut Hartmut Kämpfe, dieser so ruhige wie energetische 75-Jährige, was anderen nicht passen könnte? Ganz einfach: Er nimmt sich Zeit für Wasem Taieb, einen 25-jährigen Syrer, der vor anderthalb Jahren nach Deutschland kam und nun in Stendal lebt. Er spricht mit ihm, verbessert sein Deutsch, fährt mit ihm nach Berlin genauso wie zu Veranstaltungen in der Altmark, sie kochen und reden über alles Mögliche, über die Welt und auch Gott. „Wir sprechen oft über den Glauben, ich hab so viel gelernt, Wasem macht unser privates Leben bunt“, sagt Kämpfe, der zwei Söhne und zwei Enkel hat und seine Familie bei all dem an seiner Seite weiß. Zumal seine Frau Sigrid, ist sie es doch, die mit Wasem die Leidenschaft fürs Kochen und fürs Tanzen teilt.

Hartmut Kämpfe ist seit über einem Jahr einer von mehr als 100 Ankommenspaten der Freiwilligenagentur Altmark, einem Programm, das Geflüchteten das Zurechtfinden und Einleben hier erleichtern möchte. Und abseits des nüchtern Pragmatischen auch menschliche Nähe schaffen. Das hat bei dem Wahrburger und dem Syrer funktioniert, liebevoll nennt Wasem Taieb seinen Paten „Opa“, genauergesagt: „mein deutscher Opa“. Kennengelernt haben sich beide im Erzähl-Café im Domstift – ein erster Anhaltspunkt für Flüchtlinge, um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen, die Sprache zu üben, die Seltsamkeiten des hiesigen Alltags zu begreifen.

In seiner Heimat, einem Außenbezirk von Damaskus, hatte Wasem Taieb ein Leben. Und seine Angehörigen. Er hatte sein Fachabitur als Autoelektriker längst in der Tasche und sogar einen eigenen kleinen Laden, verkaufte Autokühler. „Alles zerstört“, sagt er. Seine Eltern sind nach der Flucht aus Syrien in der Türkei geblieben, sein Bruder und seine Schwester leben jetzt in Saudi-Arabien. Die Trennung muss schmerzen, doch davon erzählt der höfliche junge Mann, der so gern zu lachen scheint, nichts im Gespräch mit der Zeitung.

Jetzt fängt der 25-Jährige wieder neu an mit Leben. Hat sein Sprachzertifikat geschafft, spielt in einem Theaterclub des TdA mit, hat Freunde gefunden, und seit August lernt er an der Berufsschule Stendal Gestaltungstechnischer Assistent. Nicht sein Traumberuf, er wäre gern Kfz-Mechatroniker geworden, aber: Es geht weiter! Und er wohnt in einer WG mit Deutschen, endlich! Und für nachmittags sucht er sogar noch einen Mini-Job.

Hat Wasem Taieb Glück? Oder hat er einfach vieles richtig gemacht, die richtigen Menschen getroffen, Ängste überlistet, gelernt, mutig zu sein? Wohl alles zusammen. Mit Pfarrerin Daniela Schröder aus der Stadtgemeinde und „Opa“ Hartmut Kämpfe an seiner Seite hat er nicht nur Praktika gefunden, sondern sich auch durch Amtsschreiben und -stuben manövriert. „Hartmut hilft mir immer, wenn etwas ist. Er ist wie eine Brücke zwischen uns Flüchtlingen und den Deutschen.“ Und wie gern wollen Wasem Taieb und seine Freunde „deutsche Leute kennenlernen“, wie er sagt, „aber es ist schwierig, niemand hat Zeit“.

Aber Opa Hartmut hat Zeit. Und ein großes Herz.