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First Lady der DDR Für Margot Honecker zählten Schicksale nicht

Der Wissenschaftler Nils Ole Oermann schrieb ein Buch über Margot Honecker.

Von Bernd-Volker Brahms 10.08.2016, 01:01

Herr Oermann, Sie werfen in Ihrem Buch die Frage auf, warum Margot Honecker sich Ihren Fragen gestellt hat. Haben Sie mittlerweile eine Erklärung gefunden?
Nils Ole Oermann: Sie hat mir gleich bei meinem ersten Besuch gesagt: "Wenn Sie Journalist wären und nicht Wissenschaftler, dann würden wir gar nicht miteinander reden." Der Hintergrund war, dass mit dem Tod ihres Mannes ihr die Boulevardmedien auf den Leib rückten. Dann gab es 2012 noch ein ARD-Interview, wo sie danach gesagt hat, dass sie von ihrem Gesprächspartner getäuscht worden sei, da sich derjenige ihr gegenüber nicht als Journalist vorgestellt habe. Sie hatte wahrscheinlich zurecht das Gefühl, dass bei den Medien nur das Interesse vorherrschte, sie als Protagonisten und „lila Hexe“ in die Öffentlichkeit zu ziehen. Deswegen hat sie keine Interviews gegeben.
Wie haben Sie dann Zugang zu ihr bekommen?
Ein Bekannter von mir, der Frau Honeckers Klassenstandpunkt teilte, hatte ihre E-Mail-Adresse, und dann habe ich sie einfach angeschrieben und auch gleich eine Antwort erhalten. Ich habe ihr dann umgehend meinen Lebenslauf geschickt, damit sie wusste, dass ich weder ihr Genosse bin noch ihren Klassenstandpunkt teile, aber als Pfarrer und Universitätsprofessor gut zuhören kann und ihr fair und objektiv zu begegnen versuche. Dann spielte vielleicht auch eine Rolle, dass die Frau wie bei anderen Leuten, denen alle zuhören mussten, sich selbst auch gerne reden hörte. Der dritte Punkt war vielleicht auch, dass sie schlicht Heimweh hatte.
Wie kommen Sie darauf?
Auf die Frage, was ihr an Deutschland am meisten fehle, sagte sie einmal: „Der Wald und der Geruch von Pilzen.“ Eigenartig, oder? Sie stieg bei unseren Gesprächen oftmals mit deutscher Tagespolitik ein. Sie fragte gern: „Wie geht´s denn lang in Deutschland?“ Dabei wollte sie vor allem die Sachen hören, die ihren Klassenstandpunkt bestätigten: Also, ‚es sind wieder fünf Obdachlose erfroren.‘, da derlei zu DDR-Zeiten ja nicht passiert sei. Oder ‚Millionen bekommen Harz IV‘ oder „Der Osten kurz vorm Bürgerkrieg“ und derlei, was ihr Weltbild bestätigte. Sie begann jeden Tag mit der Lektüre von Spiegel online. Kurz: Die Frau lebte trotz chilenischem Wohnsitzes im Kopf und im Herzen in Deutschland. Sie informierte sich mehrere Stunden am Tag übers Internet über ihre Heimat. Sie sprach fast kein Spanisch, ist in Chile auch nie angekommen. Sie hat dort in einer Comunidate gewohnt, einem von einer Mauer umgebenden Appartement-Komplex, wo es ein paar Kommunisten gab. Kontakt hat sie, wie sie selbst sagte, zu den Genossen nach Deutschland gesucht. Sie hat es übrigens auch gut gefunden, dass ich aus der Nähe von Stendal komme.
Das müssen Sie erläutern.
Sie sagte mir, sie sei ja Hallenserin. Ihr fiel bei Stendal gleich Stima ein. Und sie konnte gleich sagen, welche Ministertermine sie früher hier hatte. Sie erkundigte sich auch viel nach meiner altmärkischen Heimat und nach meiner Familie. Sie ließ sich Fotos zeigen. Dieses Zugewandtsein, was sofort in absolute Kälte umschlagen konnte, wenn es etwa um die Mauertoten ging - genau das war es, was ich in meinem Buch als „Janus-Gesichtigkeit“ beschreibe. Da ist eine nette, alte Dame, die bietet Ihnen freundlich Westkaffee an und fragt nach meiner Frau, ob die beim nächsten Mal nicht mitkomme. Und dann unterhalten wir uns über Mauertote und Jugendwerkhöfe und dann sagt sie: „Das sind alles Banditen.“ Dieses Alternieren zwischen Geisterbahn und Fasching, zwischen Revolutionstribunal und Fallbeil - das war die Eigentümlichkeit dieses Gesprächs. Und ich glaube, dass unsere Kommunikation trotz solcher unglaublichen Aussagen einer Unbeirrten nur darum weiterging, weil ich keine Rechnung mit der Frau offen hatte.
Sie meinen als jemand aus Westdeutschland?
Ich bin Jahrgang 1973 und komme aus Bielefeld, habe aber bereits 1992 mein Studium in Leipzig begonnen. Ich habe lange im Osten Berlins gewohnt und lebe seit 2009 mit meiner Familie in der Altmark. Promoviert wurde ich in England. Darum funktioniert das mit der Wessi/Ossi-Kategorie auch nicht so gut in meinem Fall. Was ich meine, ist vielmehr dies: Ich habe nie unter Frau Honeckers Schulpolitik gelitten. Anders als in hundertausenden anderen Fälle diesseits der Elbe hat Margot Honecker in meinem Fall keine Möglichkeit mehr, meine Biographie zu verbiegen und Lebenschancen zu beschneiden.
Woher kam bei Ihnen dann das große Interesse, Margot Honecker in ihrem Exil zu besuchen, wenn Sie biograpisch nie etwas mit ihr zu tun hatten?
Sie ist eine Person der Zeitgeschichte. Sie ist jemand, der einen Staat über 40 Jahre mitgeprägt hat und zwar nicht zum Besseren! Das würde sich doch kein historisch interessierter Mensch entgehen lassen, zu solch einem Gespräch zu gehen, wenn er die Möglichkeit dazu hat. Bei unserem ersten Kaffee konnte ich den Abstecher nach Santiago de Chile als Zwischenstopp mit einer anderen Reise machen. Die anderen Male bin ich extra dorthin geflogen.
Und beim letzten Mal im April 2016 - kurz vor ihrem Tod - sind Sie ja quasi auf gut Glück geflogen, ohne zu wissen, ob Sie bis zu ihr vorkommen?
Ja, das ist richtig. Sie hatte meine Mails nicht mehr beantwortet. Sonst hatte sie mit preußischer Disziplin immer sofort geantwortet. Ich war mir darum sicher, dass da etwas nicht stimmte, zudem ich wusste, dass sie krebskrank war. Und dennoch hat sie mich diszipliniert wie immer empfangen. An so einer Person kann man darum exemplarisch sehen, wie eine Diktatur aufrecht zu erhalten ist: Eine Diktatur braucht bis ins Mark von ihr überzeugte Menschen wie Frau Honecker, die fleißig und ordentlich ihre Arbeit erledigen, wenn auch mit den völlig falschen Zielen im Nachhinein.
Es gab also bei Ihnen immer noch ein gesteigertes Interesse, sie ein viertes Mal zu treffen? Warum?
Das Interesse kam weniger wegen dem, was sie sagte, sondern wie sie es sagte. Sie bezeichnete sich zum Beispiel weiter als Stalinistin. Das glaubte sie nicht nur, sondern lebte es bis in die Haarspitzen und komplett unbeirrt. So hat sie sich nicht mal an ihrem Staat bereichert wie bei anderen Diktatoren üblich. So etwas treffen Sie in der Reinform nicht mal in Nordkorea. Das, was sie erzählte, war so weit weg von dem, was man als zivilisierter Demokrat im gängigen Meinungsspektrum wahrnimmt. Die Schicksale von Menschen waren für die Frau eine Fußnote. Und sie sah sich als konsequente Kämpferin für das bessere Deutschland. Wenn das Ganze für ihre Opfer nicht solche Auswirkungen gehabt hätte, dann könnte man diese Konsequenz an ihr fast bewundern oder zumindest respektieren. Sie stand zu ihrer DDR und zur Sache. Ich bin nicht zu ihr hingegangen, um anschließend eine wissenschaftliche Biografie über sie zu schreiben. Ich wollte einfach wissen: Was geht in dieser Frau vor?
Stichwort Zwangsadoption, Jugendwerkhöfe und Mauertote. Haben Sie in den Gesprächen auch mal so etwas wie Wut verspürt?
Ich habe sie ja damit konfrontiert. Ich hatte den Luxus, dass sie sich das anhören musste und mich bei abweichender Meinung anders als früher nicht einsperren lassen konnte. So habe ich ihr gesagt, dass seit 1949 hundertausende Jugendliche in „Jugendwerkhöfen“, sprich Jugendknästen zu leiden hatten und das vielleicht nur, weil sie rosa Haare hatten. Da wurde sie nicht böse, sondern sagte nur: „Sicher, sicher, aber das waren andere Zeiten damals.“ Und so ging das ohne jede Reue und unbeirrt bei fast allen Themen.
Ist man da nicht emotional unter Spannung?
Sicher, darum hakt man ja ein. Wenn sie zum Beispiel sagte: „Meine 1500 Euro Rente sind ein Beschiss.“, dann habe ihr glasklar gesagt: Wenn die Geschichte andersherum gelaufen wäre, dann hätte sie die Politiker der anderen Seite doch nach Hohenschönhausen oder Bautzen gebracht, statt sie mit einer Rente über dem Durchschnittssatz zu versorgen. Ja, sie hat nicht mal widersprochen – wie auch, denn das stimmte ja! Ich habe an keiner Stelle mit meiner Einstellung hinterm Berg gehalten. Das Interessante war, dass sie das akzeptiert hat, allerdings ohne dass sich aber der Frontverlauf zwischen uns auch nur um einen Zentimeter verschoben hätte.
Gab es dann auch persönliche Momente in den Gesprächen, zum Beispiel über ihren Mann?
Ja, sie sprach viel über Familie. Es gab Momente, wo man aufhorchte. Sie sagte, sie sei sehr kinderlieb. Und direkt danach: „Als Ministerin hatte ich nie Zeit für die Tochter gehabt.“ Ich wies sie darauf hin, dass das nicht zusammenpasste. Sie reagierte aber nicht. Nur als ich sie einmal auf ihren Bruder Manfred Feist ansprach, habe ich sie sehr emotional erwischt. Denn ich wusste nicht, dass er bereits 2012 gestorben war, und die Frage ging ihr nahe. Das war einer der wenigen Momente, wo sie Gefühle zeigte. Sie war eine harte Frau, stählern, eben eine Stalinistin. Sie würgte das Gespräch auch immer dann ab, wenn es um ihren Mann ging. Denn sie wollte in ihrer Rolle als ehemalige Volksbildungsministerin angesprochen werden und nicht als First Lady und Anhängsel ihres Mannes. Sie hat auch mal betont: So wie man zu seiner Familie durch Dick und Dünn steht, so zieht man so eine Ehe durch. Das ist natürlich kein Kompliment für Erich Honecker gewesen. Ich würde auch denken, dass zu jedem Zeitpunkt der Ehe klar war, wer da die Hosen an hatte. Der Teil ihrer Familie war unemotional, anders als bei ihrer Tochter und dem Enkel, die ja in Chile leben.
Hatten Sie eigentlich das Gefühl, dass Sie einer intelligenten Frau gegenüber sitzen?
Nein, aber einer bauernschlauen Politikerin, einer Frau, die schon durchs Leben kommt. Ihrem Mann war sie sicherlich überlegen, wenn man ihren Weggefährten glaubt. Intelligent war sie nicht, aber politisch klug. Der den Nazis zeitweise nahestehende Staatsrechtler Carl Schmitt hat das einmal so definiert, dass die wichtigste Fähigkeit eines Politikers sei, Freund und Feind auseinanderhalten zu können. Das konnte Margot Honecker ausgezeichnet! In ihrer Welt gab es nur Revolutionäre und Konterrevolutionäre, Gute und Böse.
Wusste Sie, dass Sie ein Buch aus ihren Gesprächen machen?
Ja, das wusste sie und nahm es zumindest billigend in Kauf. Ich habe ihr allerdings versprochen, es nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Und daran habe ich mich auch gehalten. Vielleicht war es das, was sie an mir schätzte. Ich fragte durchaus hart nach, war aber stets fair und habe mich an alle Absprachen gehalten, statt Bilder aus ihrer Wohnung an die Regenbogenpresse zu verkaufen oder ihre E-Mails zu veröffentlichen, wie andere „Weggefährten“ das ohne Zögern taten.
Was gab es für Reaktionen auf ihr Buch?
Ganz unterschiedlich, aber man kann in jedem Fall sagen, dass die Frau die Leute bis heute nicht kalt lässt. Es gab zum Teil heftige Reaktionen, die sagten: „Wieso ziehen Sie denn so eine verdienstvolle Frau in den Dreck, die so viel für unser Bildungswesen getan hat.“ Aber die meisten Reaktionen und Rezensionen waren erfreulich.