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Geschichte Kinderschicksal beim Holocaust

Jutta Dick berichtete bei der Veranstaltung "Denken ohne Geländer" in Stendal über ein Mädchen, das dem Holocaust entkam.

Von Bernd-Volker Brahms 22.01.2019, 00:01

Stendal l Ohne viel Pathos erzählt Jutta Dick vom jüdischen Leben, das es bis in die 1940er Jahre in Halberstadt gegeben hat. Die Direktorin der Moses-Mendelssohn-Akademie aus der Harzer Vorstadt sprach zur Eröffnung der 4. Gedenkwoche „Denken ohne Geländer“ im Stendaler Stadtarchiv. Sie fokussierte sich auf jüdisches Kinderleben und das Schulwesen und trat dabei auch in den Dialog mit einigen der 23 Schüler des Osterburger Gymnasiums und weiteren Gästen.

Jutta Dick lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Schicksal eines Mädchens, das aus Halberstadt stammte und das den Holocaust überleben konnte, weil es von den Eltern 1939 noch auf einen sogenannten Kinderstransport nach England geschickt wurde. 10 000 Kinder konnten auf diese Weise überleben. Lillyan Rosenberg, die seinerzeit noch Lilly Cohn hieß, lebt heute noch mit 90 Jahren in New York.

Für den Autor dieser Zeilen war der Vortrag mit einem besonderen Aha-Erlebnis verbunden. Er hatte Lillyan Rosenberg vor 15 Jahren kennengelernt und hatte sie für die deutsch-jüdische Zeitung „Aufbau“ seinerzeit interviewt. In jedem Jahr 2003 war Lillyan Rosenberg 75 Jahre alt und hatte gerade nach 64 Jahren erstmals wieder ihre Geburtsstadt Halberstadt besucht. Sie war seinerzeit von Jutta Dick eingeladen worden, die bis heute engen Kontakt zu ihr und der Familie gehalten hat.

„Es ist spannend eine solche Geschichte zu hören“, sagt der 15-jährige Gymnasiast Max Bethge. Er gibt zu, dass er in der Schule noch nicht viel über den Holocaust erfahren hat. Auch die Klassenkameraden Joelle Brauer und Liam Nitsche aus der 9c des Osterburger Gymnasiums waren beeindruckt über das Einzelschicksal.

Mit Geschichtslehrerin Elke Preis sind die Schüler bislang bis zum Jahr 1935 gekommen, als die Nazis die antijüdischen Nürnberger Gesetzte verabschiedeten. „Es gibt viele Geschichten in der Geschichte“, sagt Preis. Einzelschicksale könnten die große Dimension ganz gut herüberbringen und Schüler fesseln.

In der AG „Schule ohne Rassismus“ beschäftigen sich Schüler verschiedener Jahrgänge schon länger mit dem Thema. 2016 hatten sie die Verlegung von Stolpersteinen initiiert, berichtet Schulsozialarbeiterin Steffi Wecke, die den Ausflug nach Stendal vorangetrieben hatte.

Professorin Katrin Reimer-Gordinskaya, die an der Stendaler Hochschule einen Lehrstuhl für kindliche Entwicklung und Sozialisation inne hat, wies bei der Eröffnung der Gedenkwoche darauf hin, dass sie von Studenten immer wieder die Rückmeldung bekäme, dass diese einen individuellen Weg zur Beschäftigung mit dem Holocaust finden wollen – anders als oft in der Schule vermittelt. Die Hochschule ist Mitorganisator der Veranstaltungswoche, die sich auf den 27. Januar als Holocaust-Gedenktag bezieht. An jedem Tag im Jahre 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit.

Magdalena Burkhardt vom Theater der Altmark, das ebenfalls Mitorganisator ist, brachte ein Zitat der jüdischen Philosophin Hannah Arendt ins Spiel, die 1959 bei der Entgegennahme eines Preises im Bezug auf den Holocaust sagte: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus – für heute – ergibt.“ Hannah Arendt war es auch, die die Formulierung „Denken ohne Geländer“ geschaffen hat, die als Motto der seit nunmehr vier Jahren bestehenden Erinnerungsreihe in Stendal dient. Es gehe darum in Hannah Arendts Sinne eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen, sagte Burkhardt.

Für die Eltern von Lillyan Rosenberg gab es im Übrigen keine Zukunft, sie waren im April 1942 mit dabei, als die Halberstadter Juden nach Warschau deportiert worden sind. Welches genaue Schicksal sie ereilte, weiß Rosenberg nicht. Ihr Bruder Werner konnte ebenfalls nach Amerika fliehen. Lillyan Rosenberg, die von 1939 bis 1944 Tagebuch führte, heiratete mit 19 Jahren, arbeitete als Modezeichnerin. Sie bekam zwei Söhne und hat drei Enkelkinder.

Jutta Dick hat in dem Buch „Hauptsache wir bleiben gesund ...“ (2008) das Schicksal der Familie aufgeschrieben.