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Gesellschaft Stendal: Die Jugend ist arm

Mehr als jedes fünfte Kind im Landkreis Stendal lebt von Hartz IV. Das geht aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor.

Von Siegfried Denzel 24.07.2020, 23:01

Stendal l Ferienausflüge mit ihren beiden Söhnen führen Sabrina M. in diesem Jahr höchstens bis zum Stendaler Tiergarten. Weitere – und teurere – Touren kann sich die alleinerziehende 31-Jährige nicht leisten. Nach wie vor sei sie in Corona-Kurzarbeit – wobei der Stendalerin ihr nur mit Mindestlohn vergüteter Verkäuferinnen-Job schon vor der Pandemie nicht zum Leben gereicht hat: Sie ist eine sogenannte Aufstockerin, die ihr Arbeitseinkommen nur mit Hilfe staatlicher Leistungen auf das Existenzminimum bringen kann. Und die seit der Trennung von ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer Söhne auf Unterhaltsvorschuss vom Landkreis angewiesen ist; ihr Ex-Partner zahle einfach nicht, beklagt Sabrina M.

Mit diesem Problem ist die 31-Jährige alles andere als allein: Im vergangenen Jahr habe der Landkreis Stendal durchschnittlich für 1.968 Kinder und Jugendliche Unterhaltsvorschuss gezahlt – insgesamt mehr als 5,1 Millionen Euro, teilte Angelika Vogel, Büroleiterin von Landrat Patrick Puhlmann (SPD), auf Nachfrage mit. Zum Vergleich: Im Jahr 2016 waren es erst 925 Kinder und Jugendliche, für die der Landkreis Unterhaltsvorschuss leisten musste und dafür knapp zwei Millionen Euro ausgab.

Für das laufende Jahr erwartet die Kreisverwaltung nochmals deutlich steigende Ausgaben: Seit Mai sei ein „spürbarer Anstieg von Unterhaltsvorschuss-Neuanträgen zu verzeichnen“, berichtete Vogel.

Laut der aktuellen Bertelsmann-Studie lebten im vergangenen Jahr im Landkreis Stendal 21,1 Prozent aller Minderjährigen in einer Familie, die auf Hartz IV angewiesen war; dass es im Vergleichsjahr 2014 sogar 26,9 Prozent waren, kann die Sozialexperten vor Ort kaum zufriedenstellen: „Die Zahlen verwundern mich gar nicht“, sagt Susanne Borkowski von der Hochschule Magdeburg-Stendal, die auch lange für den mit der Hochschule verbundenen Verein „Kinder Stärken“ verantwortlich war. Die Wirtschaft im Landkreis Stendal sei von einem „wahnsinnig großen Niedriglohnsektor“ geprägt. Die von der Bertelsmann-Stiftung festgestellte Kinderarmut sei „in erster Linie auf die Einkommensarmut der Eltern zurückzuführen“.

Borkowski, die in Vetretung die Professur „Kindliche Entwicklung und Gesundheit“ innehat, sieht mehrere Ansätze, dem entgegenzuwirken: So spricht sie sich einerseits für eine staatliche Kinder-Grundsicherung aus, um Minderjährige finanziell vom niedrigen Verdienst der Eltern zu entkoppeln. Andererseits seien Kommunen gefordert, das Personal in Kitas aufzustocken, um eine bessere Förderung zu ermöglichen. Denn: Kinder armer Familien „kommen oft mit Entwicklungsrückständen in die Schule“.

Auch Peter Ludwig (SPD), Vorsitzender des Ausschusses für Jugend, Frauen, Familie und Soziales in Stendal und zugleich Mitglied im Kreistag, ist wenig verwundert über das schlechte Abschneiden des Landkreises in Sachen Kinderarmut: „In der Altmark scheitert es an der geringen Zahl gut bezahlter Arbeitsplätze“. Außerdem „haben wir eine Menge Alleinerziehender“.

Nach der Sommerpause werde die Studie Thema in den politischen Gremien, ist Ludwig überzeugt. Wobei Landkreis und Stadt nur eingeschränkt handlungsfähig seien: Bei der Förderung von Sozialprojekten sei weniger Bürokratie und „viel mehr Stetigkeit“ wichtig. Und die regionale Wirtschaftsförderung sei gefordert, „mehr lukrative Jobs“ in der Altmark anzusiedeln - „damit würden wir das Problem lösen“, ist Ludwig überzeugt.

Doch der Sozialdemokrat ist nicht nur Kommunalpolitiker, sondern auch Präsident des Stendaler Leichtathletikvereins ’92. Als solcher sieht er die Vereine in der Pflicht, noch mehr für die Möglichkeiten aus dem sogenannten Teilhabepaket zu werben. So helfe die Geschäftsstelle des Leichtathletikvereins „regelmäßig“ bei Leistungsanträgen an den Kreis, um Kinder aus finanzschwachen Familien nicht an der Hürde „Mitgliedsbeiträge“ scheitern zu lassen.