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Industrie-Unfall Nach der Tragödie kam die Kündigung

Der schwere Unfall 1988 im Tangerhütter Eisenwerk hatte schreckliche Folgen. Auch die Angehörigen leiden noch darunter.

Von Rudi-Michael Wienecke 17.10.2018, 01:01

Tangerhütte l Am 14. Oktober 1988 war es der Volksstimme eine Meldung wert, dass bei Mahlpfuhl der erste Marderhund im Kreis Stendal geschossen wurde. Unter der Überschrift „Qualität kommt nicht an zweiter Stelle“ ging es am 15. Oktober um den Aufkauf von Obst und Gemüse im Kreis. Auch in den Folgetagen stand in dem damaligen „Organ der SED-Bezirksleitung“ nicht eine Silbe darüber, dass nach einem Unfall im Tangerhütter Eisenwerk zwei Männer, Uwe Andres und Hugo Baumgart, mit schwersten Verbrennungen um ihr Leben kämpfen, obwohl diese Katastrophe tagelang in der Region Gesprächsthema Nummer eins war. Tragödien dieser Art wurden zu DDR-Zeiten in den Medien verschwiegen, sie passten nicht in das Weltbild. Die Journalisten bekamen einen Maulkorb verpasst.

Die damals in Grieben wohnende Heidemarie Baumgart hatte andere Sorgen. Nach dem schweren Unfall ihres Mannes ließ sie sich krankschreiben, kehrte nie wieder in ihren Beruf als Lehrerin zurück. Sie musste 14 Tage nach der Tragödie entscheiden, dass ihrem Mann der rechte Unterschenkel amputiert wird. Über Wochen rechnete sie jeden Tag mit der Todesnachricht.

Oft wurde die Frau von Nachbarn gefahren, wenn sie ihren Mann im Stendaler Krankenhaus besuchen wollte. Meistens war sie in diesen sieben Monaten auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Ab Grieben ging es mit dem Betriebsbus des Faserplattenwerkes nach Tangermünde, weiter mit der „Ferkeltaxe“ nach Stendal und zu Fuß zehn Minuten vom Bahnhof zum Krankenhaus. Der Rückweg sah ähnlich aus. Für die einstündige Besuchszeit war Heidemarie Baumgart von 13 bis 18.30 Uhr unterwegs.

Zusätzlich belastete die Einsamkeit. „Von meinen Kollegen kam nur einer zu Besuch. Auch die Leute im Dorf waren unsicher und wendeten sich ab.“ Heidemarie Baumgart, damals noch Genossin und Jahre zuvor sogar Parteisekretärin an ihrer Schule, schüttete der Pastorin ihr Herz aus. „Was Sie nicht fassen können, wird Normalität werden“, habe diese geantwortet und sie sollte Recht behalten.

Der Betriebszeitung „Der Eisenwerker“ war das Unglück immerhin eine kleine Meldung wert. In ihr versicherte die Redaktion abschließend: „Den Angehörigen der verunglückten Eisenwerker wird alle erdenkliche Hilfe zuteil.“ Für das Ehepaar Baumgart gab es auch Hilfe vom Eisenwerk. Im Haus wurden kleinere Umbaumaßnahmen vorgenommen, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde für Hugo Baumgart ein elektrisch betriebenes Pflegebett organisiert und für seine Frau zahlte das Werk im Jahr 1990 sogar die Fahrerlaubnis. Im Mai 1989 setzte sich die Betriebsleitung außerdem dafür ein, dass das Ehepaar bei der Pkw-Vergabe bevorzugt behandelt werden sollte. Nach 13 Jahren Bestellzeit sollte der neue Trabi-Kombi vor der Tür stehen. „Wir lehnten ab. Unsere Tante im Westen hatte schon damals gesagt, dass wir anderes Geld bekommen werden“, erinnert sich Heidemarie Baumgart.

Brunhild Andres musste andere Erfahrungen mit dem Eisenwerk machen. Nach einem gut gemeinten Hinweis der Ärzte, dass ihr Ehemann viel vitaminreichen Saft brauche, machte sie sich in der Mangel-Republik auf die Suche danach und wurde nicht so recht fündig. Sie hoffte nun auf die Hilfe und die Beziehungen des Eisenwerkes. Stattdessen erhielt sie vom Parteisekretär eine Agitationslektion über die ausreichende Versorgung der Bevölkerung und den Hinweis, wo sie denn vitaminreiche Getränke finden könne. „In dem Geschäft stand eine ganze Reihe voll Rhabarber-Saft, nur Rhabarber-Saft.“

Den 117-tägigen Leidensweg ihres Mannes musste sie unmittelbar mitverfolgen. Nach der intensivmedizinischen Betreuung wurde Uwe Andres, der bei diesem Unfall am schwersten Verletzte, bereits Weihnachten 1988 in ein normales Vierbettzimmer verlegt. „Das hatte mich unschön berührt, hier wurde er nicht mehr so gut umsorgt.“ Silvester lag er in einem Einzelzimmer. „Es kam mir vor wie das Sterbezimmer.“ War Uwe Andres nach seinem Unfall noch ansprechbar, wurde er zunehmend stummer. „Mitte Januar konnte er mir nur noch zuhören. Aber ich hatte immer noch gehofft.“

Anfang Januar 1989 forderte die Magdeburger Uniklinik eine Physiotherapeutin an, die sich speziell um den Schwerstverletzten kümmern sollte. Brunhild Andres, die von so etwas überhaupt keine Ahnung hatte, wurde dafür vom Eisenwerk, ihrem Arbeitgeber, abgestellt. Immerhin konnte sie nun täglich viele Stunden bei ihrem Mann sein.

Am 7. Februar fuhr sie wie üblich mit dem Zug von Tangerhütte nach Magdeburg und dann mit der Straßenbahn zur Uni-Klinik. Als sie sich auf der Station meldete, wurde ihr mitgeteilt, dass ihr Mann am Abend zuvor, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, verstorben sei. Sehen durfte sie ihn nicht mehr. „Wie ein Kind schlich ich anschließend um die Pathologie, bis mein Vater mich abholte.“

Am 15. Februar wurde Uwe Andres in seinem Heimatort Weißewarte beerdigt. „Papa hat so schöne Blumen“, versuchte die junge Witwe ihrer vierjährigen Tochter klarzumachen, dass diese den Vater nie wieder sehen wird.

Immerhin hatte die nun alleinstehende Mutter als Planungsleiterin in der Materialwirtschaft des Eisenwerkes noch ihr Einkommen. Während der Wendezeit sei ihr auch von Seiten der Betriebsleitung versichert worden, dass man sie nicht entlassen werde, „allerdings hatte ich das nicht schriftlich, ich glaubte an das Wort der Männer“.

Es folgten Kurzarbeit und zum 30. September 1991 wurde ihr gekündigt. Auch der Hinweis der IG Metall, „dass durch ein Organisationsverschulden des Betriebes ihr Mann … verstarb“, sie nun das gemeinsame Kind allein durchzubringen hatte, ihr ein entscheidender persönlicher und materieller Verlust durch den Betrieb zugefügt worden sei, fand vor dem Arbeitsgericht kein Gehör. Für die staatlich geprüfte Betriebswirtin begann eine langjährige Tour zwischen Arbeitsamt, diversen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen.