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Inklusion Frühstück mit Hindernissen

Die "Woche des Sehens" in Stendal begann mit einem ungewöhnlichen Erlebnis für Blinde und Sehende: Frühstück mit Schwarzbrillen.

09.10.2019, 23:01

Stendal l „Uh, das sieht aber gefährlich aus, wie Du Dein Brötchen aufschneidest.“ Martin Leonhardt ist wohl drauf und dran, seiner Sitznachbarin zu helfen. Doch die hat alles im Griff, macht es immer so: „Ich brauch‘ den Daumen an der Klinge zur Orientierung“, erklärt Annemarie Kock und merkt gleichwohl, dass ihr Brötchen, das sie nicht sehen, sondern nur ertasten kann, nun etwas schief geschnitten ist. Während Leonhardt sehen kann, ist Kock von Geburt an blind, für sie ist diese Veranstaltung in der Kleinen Markthalle also eine eher leichte Übung. Wenngleich auch sie hier und da mal Hilfe braucht, da sie den Tisch nicht selbst gedeckt hat, also nicht weiß, wo was steht.

Im Rahmen der „Woche des Sehens“ hatte Annemarie Kock als Vorsitzende der Bezirksgruppe Nord des Blinden- und Sehbehindertenverbands dieses besondere Frühstück angeboten. An der langen Tafel in der Kleinen Markthalle in Stendal hat sich schließlich ein gutes Dutzend Neugierige zusammengefunden, die meisten von ihnen sehen normal, der ein oder andere hat eine starke Brille, zwei Personen sind völlig blind. Viele der Anwesenden sind vom Projekt Inklusive Bildung der Hochschule Magdeburg-Stendal, so wie Marleen Lüders und Denise Schmidt, die sich damit auch auf etwas völlig Neues einlassen: „Wenn wir anderen Inklusion und Barrierefreiheit näherbringen wollen, müssen wir selbst wissen, wovon wir reden.“ Hingegen ist Ursula Zielinski Rentnerin und vor allem daran interessiert, „was noch so auf einen zukommen kann“, denn sie hat schon eine Grüne-Star-OP hinter sich und nur ein eingeschränktes Gesichtsfeld.

Damit Sehende das Nichtsehen nachvollziehen können, bekommen sie verschiedene Brillen zum Ausprobieren, die Blindheit oder Augenkrankheiten wie Glaukom oder Netzhautdegeneration simulieren.

Was für Annemarie Kock und den ebenfalls blinden Mario Drogmann Alltag ist, ist für die anderen am Tisch eine zwiespältige Erfahrung: Einerseits amüsieren sie sich, wie sie da unbeholfen nach Brötchen und Butter angeln, andererseits wird klar, wie eingeschränkt das Zurechtkommen plötzlich ist. „Nur mal so für zwei Minuten geht das schon, aber wenn man sich bewusst macht, dass man es dauerhaft müsste....“ Martin Leonhardt ist daher erleichtert, dass er die Brille, die ihm die Sicht nimmt, jederzeit wieder absetzen kann.

Ob sich Annemarie Kock das nicht auch manchmal wünscht? „Ich kenne es ja nicht anders und sage jetzt nicht: Oh, es ist alles furchtbar. Aber ich bin zum Beispiel gerade in eine größere Wohnung gezogen, da muss ich mich erst mal zurechtfinden. Bis wieder alles an seinem Platz ist, das dauert. Und manchmal wünsche ich mir schon, dass ich zum Beispiel Auto fahren könnte oder einfach schneller von A nach B komme oder Dinge gezielter finde und greifen kann.“ Und eines würde Annemarie Kock doch auch gern mal wissen: „Wie sich Sehen anfühlt. Man kann Blindheit simulieren, aber nicht das Sehen.“

Weitere Veranstaltungen im Rahmen der "Woche des Sehens" in Stendal: Sonnabend, 12. Oktober, 13-16 Uhr, Landratsamt Stendal: Ausstellung zu Hilfsmitteln für Blinde und Sehbehinderte sowie Beratung; Dienstag, 15. Oktober, 14 Uhr, Hochschule Stendal: Vortrag zu Frühförderung blinder und sehbehinderter Kinder.