1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. Den richtigen Weg ins Leben finden

Junge Arbeitslose Den richtigen Weg ins Leben finden

In Hindenburg läuft seit fast zehn Jahren das Starthilfe-Projekt der Diakonie für abgehängte Jugendliche.

Von Bernd-Volker Brahms 20.10.2017, 01:01

Stendal/Hindenburg l Es sind junge Menschen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie andere Altersgenossen. Sie klatschen in die Hände und rufen: „Auch wir haben ein Recht auf Glück.“ Es ist die letzte Szene eines Videos, das Jugendliche in Hindenburg im Diakoniewerk Osterburg vor einiger Zeit gedreht haben.

Glück ist nicht das, was diese Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 Jahren bisher in ihrem Leben hatten. Sie sind ganz unten, ein normaler Tagesablauf mit Aufstehen, Essen, Arbeiten und Freizeit ist etwas, das sie nicht kennen und nicht können. Stattdessen kennen sie Gewalt in der Familie, Drogensucht, Kriminalität, Schulversagen, Überschuldung und psychische Probleme. An eine reguläre Tätigkeit, sei es in Schule oder im Beruf, ist für sie nicht zu denken.

Mit dem Projekt „Starthilfe 2.0“ soll den jungen Frauen und den überwiegend jungen Männern eine Chance ermöglicht werden, doch noch im Leben wenigstens einen Zipfel des Glücks zu erhaschen.

Seit rund zehn Jahren gibt es das Projekt beim Diakoniewerk Osterburg, das in Zusammenarbeit mit dem Jobcenter sowie dem Jugendamt des Landkreises betrieben wird. Seit einiger Zeit wird es auch von Wissenschaftlern der Universität in Magdeburg begleitet. „Wir wollen die jungen Leute nicht fallen lassen und wollen ihnen helfen, noch ihren Weg im Leben zu finden“, sagt Petra Panse, Leiterin der Jugendwerkstätten der Diakonie in Hindenburg. In dieser Woche stellte sie zusammen mit Steve Kanitz als Bereichsleiter Markt und Integration beim Jobcenter das Projekt vor, das nach ihren Angaben erfolgreich ist und über Netzwerke bundesweite Aufmerksamkeit erfährt. Kanitz spricht von „Leuchtturm“. Panse von einer „langen Vorlaufzeit“.

Seit März 2016 läuft das Projekt „Starthilfe 2.0“. Es wurde modifiziert. Bisher habe immer das Prinzip gegolten, dass Teilnehmer an Jobmaßnahmen „clean“ – also drogenfrei – sein müssten, erläuterte Steve Kanitz im Ausschuss. Da jedoch sehr viele Jugendliche, die im Jobcenter im Alg II-Bezug sind, Drogenprobleme hätten, habe darauf reagiert werden müssen. Sie waren nicht in Arbeit zu vermitteln und erfüllten darüber hinaus durch ihren Alkohol- und Drogenkonsum auch nicht die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Maßnahme, so Kanitz.

In der Praxis stößt „Starthilfe 2.0“ in eine Lücke. „Ich bin froh, dass wir über den Baustein verfügen und dass sich ein Träger da herantraut“, sagte Bärbel Voigt, die als Fallmanagerin beim Jobcenter arbeitet und als beratendes Mitglied des Jugendhilfeausschusses beim Landkreis mitmacht. Durch sogenannte multiple Vermittlungshemmnisse sind ein Teil der Jugendlichen in der Kartei des Jobcenters gar nicht in Arbeit zu bringen. Es muss viel Vorarbeit geleistet werden.

Man versuche einen ganz eigenen Weg zu finden, sagt Panse. Es gehe darum, sehr behutsam an die Jugendlichen heranzukommen und diese nicht mit Forderungen und Sanktionen zu belagern. In einer ersten Phase, die rund acht bis zehn Wochen dauert, werde versucht, Vertrauen aufzubauen und den Jugendlichen mit all seinen Problemen kennenzulernen. Dabei gelte das Prinzip Freiwilligkeit, sagt Panse. Zumindest für die Einstiegsphase, wo die jungen Menschen aufgesucht werden, sei es zu Hause oder auch in einem Café.

Erst wenn es in Phase zwei geht, die bis zu 46 Wochen dauern kann, dann werden „wenige strikte Spielregeln“ aufgestellt. Das Ziel, das Pädagogin Petra Panse formuliert, klingt banal, sei für die Jugendlichen aber ein immenser Schritt: Veränderungswillen mobilisieren. Den Jugendlichen soll vermittelt werden, dass sie eine Chance haben, ihrem Leben eine Wendung zu geben. Zuletzt konnten mehrere Jugendliche dahin gebracht werden, dass sie eine Drogentherapie absolvieren. „Man muss sie ja erst einmal da haben, dass sie kapieren, dass sie ein Problem haben“, sagt Panse. Viele würden schon jahrelang Drogen und Alkohol konsumieren, ein Teilnehmer hatte bereits als Achtjähriger damit begonnen. Zur Beschaffung verschuldeten oder prostituierten sich einzelne von ihnen. Vor allem anderen kümmere man sich zunächst um die Schulden, der jungen Menschen, sagte Panse. Hier könne am schnellsten angesetzt und geholfen werden.

In Hindenburg dürfen die Jugendlichen arbeiten. Unter Anleitung geht es an Haus- und Gartenarbeit und Innenraumgestaltung. Begonnen werde allerdings mit einem gemeinsamen Frühstück. Allein die Tatsache, sich in die Gruppe einzufügen, ist für einige schon eine zu hohe Hürde. Nach vier Stunden seien die Jugendlichen ausgepowert. „Sie empfinden das wie einen harten Arbeitstag“, sagt Panse. Sie leben nicht vor Ort, sondern kommen wochentags von zu Hause. „Einige müssen wir allerdings abholen.“

Es gebe viel Show und Aggressivität unter den Teilnehmern. „Dahinter steckt aber viel Angst“, sagt Panse. Der Umgang sei nicht einfach. Die Betreuer hätten schon „sehr kritische Geschichten“ von Teilnehmern gehört, wenn diese über ihren Werdegang berichteten“ sagt Panse. „Das sind Sachen, die müssen wir im Kopf selbst erst klar bekommen“, berichtet sie von der psychisch belastenden Arbeit.

Die Evaluation der Betreuung habe gezeigt, dass der sanfte Weg ohne Zwang und Sanktionen der erfolgreichere ist. „Unsere Erfolgsquote ist vergleichsweise gut“, sagt sie. Allerdings dürfe man nicht der Illusion unterliegen, dass man alle mitnehmen könne auf dem Weg in ein besseres Leben.

Bei allem sanften Herangehen an die benachteiligten Jugendlichen, gibt es in Hindenburg in der Jugendwerkstatt ein Grundprinzip, dass streng gehandhabt wird: keine Drogen. Sie habe schon mehrfach die Polizei mit Drogenspürhund kommen lassen, zweimal sei es zu einer Anzeige und einem Verfahren gekommen, erläutert Panse. Sie sehe das Vorgehen nicht als Vertrauensbruch. „Die Jugendlichen wissen, dass das Verbot gilt.“

In der Fachwelt sei sie dafür sehr kritisiert worden, sagt Panse. Sie ziehe das aber trotzdem durch, weil sie es als den richtigen Weg erkannt habe.

Beim Stendaler Jobcenter und auch beim Trägerverein in Hindenburg hofft man, dass das Projekt „Starthilfe 2.0“ über 2018 fortgesetzt wird. „Es kostet zwar viel Geld, aber es bringt auch was“, sagt Kanitz. Kollegin Voigt sagt: „Es geht um Menschenseelen“. Selbst wenn nur wenige die Kurve kriegen, so sei dies immer noch verdienstvoller, als sie von vornherein fallen zu lassen.

Der eingangs erwähnte Film über das Glück wurde im Übrigen unter Anleitung eines Mannes gedreht, der selbst zwölf Jahre lang exzessiv Drogen konsumiert hat und es in ein normales Leben geschafft hat. „Er hatte das Gefühl er müsse etwas von dem zurückgeben, was er an Hilfe erfahren hat“, sagt Petra Panse.