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Krankenhaus StendalVerständnis und Verzweiflung

Stendals Ärztlicher Direktor Prof. Ulrich Nellessen stellte sich im Gespräch einer aufgebrachten Witwe

Von Thomas Pusch 12.10.2017, 01:01

Stendal l Sie hat sich alles ganz genau aufgeschrieben. In mehreren Schulheften hat Irene Kelm (Name von der Redaktion geändert) jedes Detail notiert, was mit ihrem Mann Harry seit dem Schlaganfall im Juni bis zu seinem Tod drei Wochen passierte. Zunächst war der 75-Jährige ins Johanniter-Krankenhaus gekommen, von dort sofort in die Magdeburger Uni-Klinik ausgeflogen worden. So begann für ihn ein langes Sterben, für seine Frau ein Martyrium, das sie bis heute nicht verarbeitet hat.

„Ich halte das nicht für würdig, wie da mit mir umgegangen wurde“, sagte sie im Gespräch mit der Volksstimme. Oft habe sie keine Antworten bekommen, ein Oberarzt sei zwei Wochen für sie nicht zu sprechen gewesen, als sie sich gegen eine Magensonde ausgesprochen hatte, sei ihr vorgeworfen worden, ihren Mann verhungern und verdursten zu lassen. „Dabei hatten wir doch beide eine Patientenverfügung aufgesetzt, in der eben sämtliche lebensverlängernden Maßnahmen ausgeschlossen wurden, wenn es keine Aussicht auf ein erträgliches Leben gibt“, beklagt sie. Nach zwei Wochen wurde ihr Mann nach Stendal verlegt, auch dort sei der Umgang nicht besser gewesen. Auch dort habe man ihr den Vorwurf gemacht, ohne Sonde würde ihr Mann unmenschlich verhungern und verdursten, nachdem ihr Mann gestorben war, sei sie nicht einmal vom Krankenhaus angerufen worden. Weil einer ihrer beiden Söhne den Vater an jenem Tag besuchen wollte, sei die Todesnachricht bekanntgeworden. Auf Nachfrage der Volksstimme zu den Umständen sprach der Ärztliche Direktor Prof. Ulrich Nellessen eine Einladung aus. Er wollte mit der Witwe direkt und nicht über die Zeitung ins Gespräch kommen.

Am Dienstag fand das Gespräch im Zimmer von Nellessen statt. Eine Lösung wurde nicht gefunden, das ist wohl auch schwer möglich, aber beide Seiten hörten sich zu und warben um gegenseitiges Verständnis. „Ich möchte endlich meine Ruhe finden“, sagte Kelm. Sie schilderte ihre Erlebnisse in den drei Wochen vor dem Tod ihres Mannes. Nellessen hörte aufmerksam zu, schließlich kam sie zu dem Fazit: „Mein Mann wurde in der Zeit nicht als Mensch, sondern als Ware behandelt“.

„Ich kann Sie voll und ganz verstehen“, hakte Nellessen ein, „aber Sie müssen aufpassen, dass Sie die Grausamkeit des Sterbens nicht auf die Ärzte und Schwestern übertragen.“ Die Situation ihres Mannes sei von Anfang an hoffnungslos gewesen. Die eine Gehirnhälfte habe ausgesehen wie ein Baum, in den der Blitz eingeschlagen hat, fand er die klaren Worte, die der Hinterbliebenen ihrer Schilderung nach zuvor nie gesagt worden waren. Dass ihr allerdings vorgeworfen wurde, ihrem Mann die Sonde vorzuenthalten sei unmenschlich, bezeichnete Nellessen als „die dümmste Antwort, die man Ihnen geben konnte“. Andererseits äußerte er auch seine Bedenken zum Thema Patientenverfügung. Viele Formulierungen darin seien nicht eindeutig. Was sei beispielsweise unter dem Begriff „erträgliches Leben“ zu verstehen, ein Leben im Rollstuhl vielleicht? Die Witwe verneinte. „Oh doch“, widersprach ihr Nellessen, „wenn es darum geht, eine Alternative zum Sterben zu haben, nehmen wir vieles in Kauf“. Auch die Formulierung, nicht mehr selbstbestimmt handeln zu können, sei mit Vorsicht zu genießen. So könne ein Patient am Montag bewusstlos, am Dienstag wieder lebendig sein.

Den Vorwurf, dass mit ihrem Mann möglichst viel Geld verdient werden sollte, ließ er nicht gelten. „Das hat finanziell überhaupt nichts gebracht, das war eher ein Verlustgeschäft“, meinte er. So sei eher zu viel als zu wenig gemacht worden.

Allein sechs Computertomogramme des Schädels wurden angefertigt. „Schon beim ersten konnte man sehen, dass ihr Mann keine Chance hatte“, sagte Nellessen. Warum habe ihr das bloß niemand so direkt gesagt. „Die Ärzte kommen doch mit dem Tod auch nicht zurecht“, versuchte er eine Erklärung. Zudem werde die Medizin durch das Gesundheitssystem immer mehr unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet, die Menschlichkeit sei im Sinkflug. „Und trotzdem kann man mit Angehörigen nicht so umgehen, da hätte Sie jemand einmal in den Arm nehmen, ganz ruhig mit Ihnen reden müssen“, stellte Nellessen fest.

„Mir hat gefallen, wie ruhig und besonnen er mit mir gesprochen hat“, sagte die Witwe am Mittwoch bei einem Besuch in der Redaktion. Doch für sie ist der Kampf noch nicht zu Ende gekämpft. Die Menschlichkeit müsse auf die Krankenhausflure zurückkehren. „Jemand muss damit anfangen, ich könnte die Nächste sein, die umfällt, dann haben meine Söhne die Probleme“, meinte sie. Jetzt will sie sich an die Politik wenden.